Vor einiger Zeit las ich ein besonders schönes Buch, in dem russische Erzählungen von Gogol, Tolstoi, Tschechow und Turgenjew vorgestellt und besprochen werden. Man lernt in diesem Buch, wie gute Geschichten funktionieren, wie man sie schreibt, und was sie uns über unsere Welt erzählen.
Man lernt, dass gute Literatur moralische Einstellungen beeinflussen und das Leben verändern kann, so ein Rezensent. Stimmt.
Die Szene, „bei Regen in einem Teich schwimmen“ entstammt der Erzählung „Stachelbeeren“ von Anton Tschechow aus dem Jahre 1898, sie hat dem Buch von George Saunders den Namen gegeben.
Daran denke ich, als wir am 9. September 2022 im Regen von Worpswede die Hamme hinunterrudern.
Eigentlich wollte ich an diesem Wochenende mit dem Schwager auf dem Kummerower See segeln, die Tour wurde wegen eines herannahenden großen Tiefdruckgebietes abgesagt.
Viel Regen und kein Wind, das wäre tatsächlich ungünstig gewesen.
Das Tief ist da. Es regnet. Dennoch freue ich mich: Ich friere nicht im Ruderboot – durch die Muskelarbeit, wir rudern trotz der Nässe im Takt, lediglich die Griffe der Skulls sind durch das Wasser etwas rutschig, was beim Einsetzen und Aushebeln stört.
Ich sehe vor meinem inneren Auge, wie der trockene Wandboden fast widerspenstig das Wasser aufnimmt, wie der Waldbrand unter dem Brocken im Hochharz langsam gelöscht wird, und wie der verbrannte Rasen in unserem Garten zu neuem Leben erwacht. Dem Jahrhundertsommer wird eine Abkühlung gegönnt.
Mitten in dieser Abkühlung rudern wir freudig im Regen auf der Hamme – und erst an Land werden uns der Ukraine-Krieg, die Energiekrise und die Klimakatastrophe wieder einholen, wohl gegen 20 Uhr.
Literatur:
Die Stachelbeeren
Anton Tschechow, Russkaja Mysl, August 1898
Bei Regen in einem Teich schwimmen
George Saunders, Luchterhand 2022

Jahrgang 1957, geboren in Braunschweig. Nach der Schulzeit habe ich in Kiel Medizin studiert und mich in Norddeutschland, insbesondere in Schleswig-Holstein, richtig verliebt. Norddeutschland bin ich treu geblieben – meine Facharztausbildungen habe ich in Lübeck absolviert, dann bin ich als Chef einer Chirurgischen Klinik nach Bremen gegangen. Seit über 15 Jahren lebe ich mit meiner Familie im kleinsten Bundesland. Wissenschaftlich habe ich über Lymphome gearbeitet und damit 1983 promoviert. Habilitiert habe ich mich 1991 in Lübeck über die Zertrümmerung von Gallensteinen. Seit 1996 Professor für Chirurgie. Ich arbeite hauptsächlich auf dem Gebiet der Gefäßmedizin und leite seit 2003 ein Gefäßzentrum an dem Klinikum Bremen-Nord
Neben wissenschaftlichen Publikationen schreibe ich kulturkritische Essays, Satire, Prosa, Geschichten über Norddeutschland, insbeson-dere über unsere nördlichste friesische Insel. Mehrmals habe ich mit Bremer Ärzten in der hiesigen Stadtbibliothek vorgetragen, schließlich ist die Medizin eines der Lieblingsmotive in der Literatur.
Warum ich schreibe? Am Grab von Kurt Tucholsky in Schweden steht eine Inschrift aus dem „Sudelbuch“, gestiftet vom Deutschen Bot-schafter in Schweden anlässlich des 75. Todestages des Publizisten und Satirikers: „Eine Treppe: Sprechen, Schreiben, Schweigen“.
Auch ich glaube an eine Hierarchie der Strukturiertheit des Denkens. Die unstrukturierteste Art des Denkens ist das Träumen. Hierbei geht alles durcheinander: Erlebtes, Erwünschtes, Geschehenes, Befürchtetes. Das Denken im Wachzustand ist demgegenüber realitätsbezogen, dennoch sprunghaft, situativ, reaktiv und den Eindrücken der Sinnesorgane folgend. Eine Hierarchiestufe höher steht das Sprechen. Sprechen erfordert eine Ordnung der Gedanken und eine Unterscheidung in Wichtiges und Unwichtiges. Gesprochenes kann aber nicht rückgängig gemacht werden. Gesagt ist gesagt.
Schreiben dagegen ermöglicht die Ordnung von Gedanken in weit hö-herem Maße: Sätze können umgestellt, verschachtelt, getrennt oder verbunden werden. Schwierige Gedanken können durch Bilder illus-triert werden, wichtige durch Fußnoten untermauert. Schreiben ist eine Investition.