Ein Hypochonder in Zeiten der Coronaviren
Die Gasmaske hat er bereitgelegt,
stündlich nimmt er neue Informationen auf,
geht in Gedanken Infektionswege durch.
Wovor denn haben Sie solche Angst?
Er zögert kurz: Vor Leid und Tod.
Fürchten wir das nicht alle – diffus, vage, unbewusst?
Hilflos.
Und nun haben Leid und Tod einen Namen und eine Form,
ein Virus ist es, das man nachweisen,
gegen das man den Kampf aufnehmen,
dessen Ausbreitung man vermeiden
kann.
Weltweit schwenken alle ein in die Endstrecke des Nachdenkens
über etwas Konkretes, Nachweisbares, Sichtbares, Fassbares.
Vielleicht überleben ja nur die Paranoiden, meint er,
weil sie sich konsequenter schützen.
Wäre das zu wünschen?
Heimat
In der ganzen Welt ist man unterwegs,
international tauscht man sich aus und
auf Reisen findet man zum eigenen Selbst.
Wenn aber Not auftritt, weltweit,
zieht es einen zurück in die Heimat
und man wird zurückgeholt
in die eigene Nation.
Verantwortung wird übernommen
Im eigenen Land,
in dem je eigene Erlasse gelten.
Die Grenzen werden dicht gemacht,
jedes Land steht für sich, steht ein für seine Bürger.
Und schaut doch zu den Nachbarn im Vergleich.
Wer schützt, wer behandelt, wer verhindert besser?
Dabei ist es ein Virus,
das überall gleich im Austausch ansteckt
über Nationsgrenzen hinweg
die Welt betrifft:
Unsere gemeinsame Heimat.
Besuchsverbot
Oft wurden sie ohnehin nicht besucht.
Alleinsein – das kennen sie;
die Stille, den Blick aus dem Fenster
in lichte, grüne, bunte, dörre Blätter,
Rollgeräusche und Rufe am Gang,
ungerichtet, ungehört.
Zum Waschen kommt jemand, zum Essen, zum Anziehen.
Griffe: geübt, fest, effektiv.
Aber manchmal, ach manchmal, klopfte es
und jemand sprach sie an, mit Vornamen,
mit dem eigenen Namen, wie ihn die Mutter aussprach oder das Kind.
Und dann traten die Erinnerungen ein,
schöne allzumeist,
Blumen hatten Farben und Duft,
ein Gesicht sah sie an, eilig, aber es sah sie an,
da blieb die Zeit stehen,
da kam Freude auf,
da war das Leben zu spüren.
Nun kommt niemand mehr.
Besuch könnte den Tod bringen.
Und?
Er käme mit Blumen, Lächeln und Leben.
Nun sterben sie allein vor sich hin.
Häuslichkeit
Einer der Großen hat gesagt,
das Unglück der Menschen rühre daher,
dass sie nicht allein mit sich in einem Zimmer sein könnten.
Nun sind die Züge leer und die Flughäfen,
auf einmal ist dem exzessiven Reisen ein Ende gesetzt,
auf den Bühnen wird noch versucht zu spielen
ohne Resonanz und Applaus im Zuschauerraum
(das ist nicht, wozu Theater gedacht ist),
in Espressobar und Pizzeria,
Stammlokal und Pub
stehen Stühle auf Tischen
wie in leeren Schulen.
Und auch Spaziergänge ohne Ziel sind bald untersagt.
Wie gestaltet sich wohl die neue Häuslichkeit?
Nicht jeder liest, liebt, lacht mit andern.
Von (zu viel?) Außen auf die eigene Innerlichkeit
zurückgeführt hat jeder nun zu Hausaufgaben
Zeit und Raum und
die Chance,
neu und anders sich selbst und womöglich Glück zu finden
und den Großen zu widerlegen
oder auch nicht.
Angst
Wer keine Angst hat, ist dumm –
hat sie gesagt, die kluge, reflektierte Lehrerin.
Der denkende Mensch kennt Risiken,
Vorsicht und – maßvolle Nachsichtigkeit.
Aber adäquate Sorge kann kippen in krankhafte Angst.
Und dann dominiert sie unweigerlich den Verstand.
Alles, was ich tun kann derzeit ist,
in der Sprechstunde
Patienten die Frage
Haben Sie selbst denn Angst?
umsichtig
mit Nein zu beantworten.
Vergesst die Seele nicht!
Da gibt es Zahlen und Figuren,
das Virus ist entschlüsselt,
Form und Übertragungswege sind bekannt.
Tröpfchen.
Abstrichgewebe.
Lungenversagen.
Abstand, Abwehr, Antikörper.
Kein Händereichen, kein Kontakt, kein Treffen,
keine Arbeit, kein Zusammensein,
um den Körper zu schützen vor Körperlichem.
Bleibt gesund
ist Gruß und Wunsch und erste Pflicht,
für die Staaten in die Knie gehen.
Doch ist der Mensch Körper allein?
Das Böse
Das Böse kann sich allein nicht verwirklichen,
wie ein Virus
muss es sich eines Wirts bemächtigen –
selbst unfertig, nicht existent ohne Ergänzung,
Membranlos konturlos
überlebt es nur schmarotzend im Wirt.
Hat der es als solches kennengelernt,
als etwas Wesensfremdes,
kämpft er dagegen, stößt es ab und lässt es nicht wieder ein,
gibt ihm keine Herberge mehr.
Und wenn das Böse sich doch einnistete,
zerstört es seine Herberge,
aber der Wirt zieht weiter
ins Weite
und lässt es zurück.
Planbarkeit
Sparpreise der Bahn gibt es ein Jahr im Voraus,
Urlaube werden gebucht für den übernächsten Sommer.
Save the dates gelten weit in die Zukunft
im virtuellen Kalender.
Kinder werden geplant und das Sterben.
Das Leben als Abfolge wohlüberlegter, vorentschiedener Termine.
Jetzt tritt Corona auf den Plan und auf die Pläne, –
die Kalender verlieren ihre Macht.
Eintragungen verfallen;
Was, wenn einem durchorganisierten Leben
die Organe versagen?
Wie schwer Menschen von heute das jeweils fallen mag,
vielleicht ist es auch leicht,
sich fallen zu lassen ins Hier und Jetzt
des Schöpfungsplans.
Ruhe vor dem Sturm
Es ist wichtig, und sie haben es wichtig,
es ist notwendig, und sie haben ihre liebe Not:
Retter in Weiß sind aktiv bis zur Erschöpfung,
Stationen werden leergeräumt,
ganze Krankenhäuser neu geschaffen,
Betten aufgerüstet,
Monitore angeschlossen,
ohne Ende wird organisiert.
Wir warten auf den Ansturm.
Und wenn er aber kommt?
Und wenn er aber nicht kommt?
Fledermaus
Es war die Fledermaus.
Skrupellose Forscher haben Versuchstiere auf den Markt entsorgt.
Es war die Ernährung.
Sie essen aber auch alles dort, Reptilien und Schlangen.
Es war Waffe.
Ein Virus – gezüchtet und in die Welt gesetzt, um Großmächte zu schwächen.
Es war Tabu.
Die Ansteckungsgefahr wurde verheimlicht von der Macht.
Es war der Teufel am Ende,
der Gottesdienste und Glauben zu zerstreuen versucht.
Es ist das Kausalitätsbedürfnis der Menschen,
wenn sie Gründe suchen für den Alptraum des Geschehens,
das sich ihrer Einflussnahme entzieht.
Es waren einmal Theorien.
aber nun ist es, wie es ist.
Und was die Fledermaus uns sagen will,
können wir nicht hören.
Reset
Man darf Freiheit nur zeitlich begrenzt einschränken,
sonst erträgt der Mensch es nicht.
Er braucht die Hoffnung auf eine Zeit danach,
wenn die Gefahr vorüber ist,
wenn alles wieder gut wird und schön.
Wie Kinder aus Krankheiten gewachsen hervorgehen,
wird der Mensch nach der Krise anders sein.
Er wird verstanden haben,
was und wer im Letzten trägt.
Er wird dankbar sein
und er wird wieder ein bisschen mehr
lieben.
Dr.phil. Dr.med. Gabriele Stotz-Ingenlath, geb. 1963, hat Philosophie und Medizin in Bochum, Cambridge, Boston und München studiert, war am MPI für Psychiatrie München, an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich Burghölzli, an der Psychiatrischen Universitätsklinik der LMU München sowie am Serbski Institut und der Regionalarztdienststelle der Deutschen Botschaft in Moskau tätig.
Sie ist verheiratet und hat drei Kinder.
Derzeit arbeitet sie als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in der Ambulanz der Fliednerklinik in Berlin, hat Lehraufträge an der Hochschule für Philosophie in München und an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin. Sie ist stellvertretende Leiterin des DGPPN-Referates „Religiosität und Spiritualität“ und Mitglied im Bundesverband Deutscher Schriftstellerärzte. Vorstandsmitglied in der Internationalen Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität IGGS.