Azaleen
Sie blühen eben im Verborgenen,
unzugänglich:
Die Gewächshäuser sind derzeit geschlossen
wie Museen, vielbesuchte, engräumige.
So entfalten sie sich üppig ungesehen,
dem hiesigen Vorfrühling exotisch voraus,
umsonst umgepflanzt aus dem Osten
und gezüchtet in Abendlandböden –
zu wessen Freude denn nun?
Dabei bräuchten wir genau jetzt
ihre Spur von Rosa im Dunkel,
ihre Blütenkränze in der Begrenzung.
Sind sie auch schön ohne Betrachter?
Urbi et orbi
Mehr kann er nicht tun.
Ein Äußerstes an Segen und Gebet –
für den Erdkreis, den heimgesuchten.
Es ist eine blaue Stunde,
der Regen fällt,
der weitläufige Platz ist menschenleer,
der Baldachin ist weiß wie sein Gewand.
Er sitzt allein, versunken, gebeugt
und bringt die Angst, den Tod, die Not
vor Gott.
Man nimmt ihm die Verbundenheit ab.
Wird die Last abgenommen –
vor dem Pestkreuz des Mittelalters,
zu dem so viel Gepeinigte schon aufsahen,
vor der Ikonen-Mutter in Gold,
zu der sie namenlos flehten?
Er nimmt uns mit
ins Innerste möglichen Glaubens,
in die gesuchte Heimat.
Schwarzer Tod
Dem Sterbenden nahe zu sein,
die Nahestehenden zu umarmen,
gemeinsam Abschied zu nehmen –
geht nicht.
Nehmt Abstand
von natürlichen Reflexen,
von Bedürfnissen nach Trost,
von Ritualen!
Der Sterbende geht ohnehin allein hinüber,
begleitet und getragen
von Gedanken, Gefühlen, Gebeten und Geborgenheit –
so Gott will.
Aber wie damals zu archaischen Seuchenzeiten
geht es nicht,
das entgleitende Kind nicht zu umarmen,
dem Bruder nicht von den Lippen zu lesen,
der uralten Mutter nicht die Augen zuzudrücken.
Und es muss doch gehen – um des Lebens willen.
Dann nimm sie hin, Tod!
Uns bleibt der Stachel –
bis zum lichten Ostertag.
Wie damals
So viele Richtlinien und Empfehlungen,
so viele Verbote.
Es gibt wieder Denunzianten, besonders brave,
und solche, die zu hinterfragen wagen,
dass die Welt gleichsam stillsteht.
Es gibt wieder die gleiche Ratlosigkeit,
die nach starken Worten und klarer Führung verlangt,
eine Unsicherheit wie sich zu verhalten,
das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden
und massig Informationen,
ganze Schaltbäume an Verhaltensmaßregeln,
die wie immer keiner liest.
Man versucht, der Angst Herr zu werden.
Jetzt ist die Zeit der Pragmatiker und der Bürokraten,
die die Ungewissheit in Regeln bannen.
Widerstand aber ist kaum möglich,
denn die Macht, gegen die es zu kämpfen gilt,
ist keine menschliche.
Broken wings
Eingesperrt – so empfand er sich,
isoliert – fühlte sich das Leben an.
Energie vibrierte,
die virtuellen Welten genügten nicht.
Immer nur verzerrte Gesichter auf Bildschirmen.
Reden, Nachrichten schreiben – das war nicht Seines.
Mit der Gruppe um die Häuser ziehen,
in Parks zusammensitzen bei Musik,
per Handschlag sich verständigen von Jugend zu Jugend:
das wäre es, das ist es.
So schlug er mit der flachen Hand aus Wut an die Wand –
und brach sich den Arm.
Die Welt räumt auf
Die Welt räumt auf
in ihrer Unordnung
Die Welt steht still
in ihrer Hetze
Die Welt ist ratlos
in ihrer Autonomie.
Aber zu all dem gab Gott die Sonne
nahezu jeden Tag in der Krise.
Und es war gut.
Gefährliche Hilfe
Aus dem Haus wagt er sich kaum noch,
aber so viele Male wird er das Blühen nicht mehr erleben und
so macht er sich auf in die Sonne,
um die Blüte festzuhalten im Bild
für sein Wohnzimmer, das er kaum noch verlassen soll.
Dabei stolpert er und fällt.
Ein junger Mann stürzt herbei und hilft ihm auf –
ganz nah kommt im dankbaren Lächeln
Gesicht zu Gesicht.
Quarantäne
Vierzig Tage in der Wüste,
Fastenzeit, Osterzeit –
vierzig Tage hält der Mensch Ausnahmezustände aus,
dann geht es nicht mehr,
dann verwüstet die Wüste,
dann mergelt der Hunger aus,
dann würden sogar Feiern zu viel.
Die Alten hatten Augenmaß.
Sie bemaßen die Zeit weise
und ließen Rückkehr zu
zum Altgewohnten
mit neuen Augen.
Welttheater
Nun sind das Erste und das Letzte,
was sie sehen auf dieser Welt
Masken,
über denen Augen schauen,
glänzend, verschwimmend und forschend.
Augen nur.
Der Lebensatem der Welt
Ist getrennt, verhüllt und je eigen.
So einsam sind Kinder und Sterbende heute
mit ihrem Selbst
und der eigenen Rolle
bei Auftritt und Abgang
auf der Bühne des Lebens.
Dr.phil. Dr.med. Gabriele Stotz-Ingenlath, geb. 1963, hat Philosophie und Medizin in Bochum, Cambridge, Boston und München studiert, war am MPI für Psychiatrie München, an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich Burghölzli, an der Psychiatrischen Universitätsklinik der LMU München sowie am Serbski Institut und der Regionalarztdienststelle der Deutschen Botschaft in Moskau tätig.
Sie ist verheiratet und hat drei Kinder.
Derzeit arbeitet sie als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in der Ambulanz der Fliednerklinik in Berlin, hat Lehraufträge an der Hochschule für Philosophie in München und an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin. Sie ist stellvertretende Leiterin des DGPPN-Referates „Religiosität und Spiritualität“ und Mitglied im Bundesverband Deutscher Schriftstellerärzte. Vorstandsmitglied in der Internationalen Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität IGGS.