Das Licht
Verschiedene kleine Begebenheiten und einzelne Gedanken veranlassten, dass mir plötzlich eine meiner ersten Kurzgeschichten einfiel (um genau zu sein meine zweite, die ich mit knapp 16 Jahren schrieb, es war jetzt vor 58 Jahren). Ich erinnerte mich an die Gesamtkomposition, an das Geschehen, durch das für meine Protagonistin plötzlich alles ganz anders war, aber ich erinnerte keine Einzelheiten, keine Worte. Erstaunlicherweise fand ich meine Kurzgeschichte ganz schnell. Objektiv gesehen schien mir mein Werk besser als vermutet, es reizte mich, sie heutigen Zuhörern vorzulesen. Ilse, genannt Ille, ist ein 17-jähriges typisches Mädchen der damaligen Zeit (vor 58 Jahren). Sie wohnt im achten Stock eines Hauses, im Haus gegenüber wohnt ein junger Mann, in den sie sich verliebt hat.
Zuerst hatte sich Ille über dieses Haus geärgert, weil es ihre sonst so freie Sicht versperrte, aber jetzt kann sie nicht oft genug hinüber blicken. Das Leben war gleich viel schöner, weil sie wusste, dass es “ ihn“ gab. Trat Ille ins Zimmer, galt ihr erster Blick gleich dem Gegenüber. Sie wusste, es war kindisch, aber sie freute sich darüber, dass das Licht bei „ihm“ im Zimmer brannte.
Ille hat mit ihrem Vater Krach.
Als sie wieder im Zimmer war, hielt Pa ihr wortlos den Mantel, ihre Büchertasche und einen gepackten Koffer entgegen. Dann trat er zum Schreibtisch, überreichte ihr einen Scheck und einen Brief an ihre Tante Emma. „Hier. Ich habe von dir frechem Ding erst mal eine Weile genug. Du ziehst für einen Monat zu Tante Emma und übergibst ihr den Brief und den Scheck. Ich werde mich regelmäßig erkundigen, ob du zur Schule gehst.“
Ille ist sprachlos. Jetzt wird sie also buchstäblich rausgeschmissen. Sie geht langsam aus ihrem Zimmer. Der Vater blickt fassungslos auf seine Tochter. Er hat sie doch nur aus dem Haus geschickt, damit sie endlich ihre Fehler einsieht und sich entschuldigt. Ein lauter Knall zeigt, dass Ille die Wohnung verlassen hat. Jetzt steht sie im Treppenhaus.
Ille geht nun die acht Stockwerke hinunter, begegnet auf jedem Stockwerk Mitbewohnern oder Besuchern. Ihr Wesen und ihr Leben wird uns so etwas deutlicher durch diese Begegnungen. Aber wo soll sie hin?
Wenn sie nun nicht zu Tante Emma zieht, wo dann hin? Umkehren und Vater um Entschuldigung bitten ist ebenso unmöglich. Da fällt ihr Blick zufällig durch das Flurfenster auf das gegenüberliegende Haus. Bei „ihm“ im Zimmer ist Licht. Es scheint ihr vertrauensvoll zu zunicken.
Im fünften Stock weiß Ille, dass sie zu „ihm“ gehen wird. Jetzt ist es im Flur dunkel. Lichtdauer ist abgelaufen, aber Ille drückt nicht auf den Knopf. So im Dunkeln kommt das Licht von „ihm“ viel besser zur Wirkung.
Während sie weiter Stockwerk für Stockwerk runtergeht, denkt sie voraus.
Ille will nun zu Andreas gehen. Aber was soll sie sagen? Sie kennt ihn doch gar nicht richtig? Aber das sind für Ille keine Probleme. Sie wird anklopfen, eintreten und sagen: „Guten Tag, entschuldigen Sie bitte, dass ich sie störe, aber ihr Licht brannte und flösste mir so viel Vertrauen ein und ich weiß sonst nicht, wo ich hin soll.“ Einfach wegschicken kann er sie ja dann auch nicht.
Ille kommen Zweifel:
Aber wenn das Licht aus ist und Andreas im Dunkeln sitzt, was soll sie dann machen? Sie wird nichts weiter sagen als: „Guten Tag, entschuldigen Sie bitte die Störung, aber könnten Sie nicht das Licht an knipsen?“ Und dann wird sie alles das sagen, was sie vorher auch sagen würde.
Inzwischen ist sie schon im zweiten Stock.
Jetzt steigen Ille die ersten Zweifel auf. Wenn sie auf der Straße sieht, dass das Licht gar nicht mehr brennt, was dann? Ja, dann würde sie nicht zu Andreas gehen. Aber darüber will sie sich noch nicht den Kopf zerbrechen.
Und dann ist sie auf der Strasse
Auf der Straße ist nicht mehr so viel Verkehr. Ille kann sie gleich überqueren. Kurz vor der Haustür blickt sie noch nach oben, nur um sich zu versichern, dass das Licht immer noch brennt. Aber so viel sie sucht, sie kann es nicht finden. Ille tritt einen Schritt zurück und da sieht sie auch sein Zimmer, aber das Licht brennt nicht mehr. Sie dreht sich um und geht wieder zu ihrem Haus. Wo soll sie nun hin? Sie weiß es nicht. Sie weiß nur, dass es keinen anderen Weg als den zu ihren Eltern gibt. Zu einer Freundin möchte sie nicht und nur in den Straßen herum treiben, davor hat Ille Angst.
Im vorletzten Stockwerk hat Ille ein Spiegel Erlebnis, Sie wird Zeugin eines Streites zwischen ihrer Freundin und deren Eltern. Nachdenklich geht sie weiter. Es hat sich etwas geändert, Sie erkennt nicht nur eigenes, sondern auch Fehlverhalten der Eltern.
Ille steht vor ihrer Wohnung. Dreimal klopft sie kurz, es ist das allgemeine Erkennungszeichen, an die Tür. Der Vater öffnet. Als ob es das Selbstverständlichste der Welt sei, nimmt er ihr den Mantel und den Koffer ab. Ille überreicht ihm den Brief und den Scheck mit den Worten: „Entschuldigt bitte, dass ich wiederkomme, aber das Licht brannte nicht mehr und ich gehe nicht gerne ins Dunkel.“
Pa, obwohl er nichts verstand, nickte mit dem Kopf und führte sie in ihr Zimmer. Ille tritt ein und blickt wie immer, diesmal aber vollkommen unbewusst, zu „ihm“ hinüber.
Und das Licht, das ihr so viel Vertrauen eingeflößt und ihr den Weg zur Vernunft gewiesen hatte, brannte wieder.
Helga Thomas
Geschrieben im Januar 1959, für die Lesung beim BDSÄ-Kongress in Gummersbach 2017 vorbereitet 31.3.2017
<h5>Dr. phil. Helga Thomas. Geboren
am 31. Januar 1943 in Berlin.
Ausbildung und Arbeit als Analytikerin, Psychotherapeutin.
1976 Diplom am C. G. Jung-Institut. Für meinen Beruf war
die Erkenntnissuche wichtig. Mit 15 entdeckte ich nach der
Flucht aus Ostberlin das Briefe- und Tagebuch-Schreiben,
und mit 18 Jahren kam der Durchbruch zur Lyrik, meiner
eigentlichen Domäne. Vor meiner Ausbildung am Jung-Institut hatte ich Slavistik
und Germanistik studiert, und zu diesem Zweck hatte
ich noch zur Zeit des eisernen Vorhangs ein Jahr in Sofia
studiert, um Material für meine Doktorarbeit zu sammeln.
Seit 2003 bin ich mindestens zweimal im Jahr für längere
Zeit in Sofia, um dort Analysen und Supervisionen,
Seminare und Vorträge durchzuführen. Es ist „stimmig“,
dass in Bulgarien ein Teil meiner Bücher jetzt erschienen
ist, die Lyrik zum Teil zweisprachig.
Ich empfinde meine beiden Kinder als das Zentrum meines Lebens,
auch wenn sie inzwischen erwachsen sind (Tochter, geboren
1978, Heilpädagogin, Sohn, geboren 1979, Mediziner),
und meine beiden Enkeltöchter Luisa, geboren 2007 und
Mathilda, geboren 2009. Immer ist ein Hund an meiner
Seite.
Mein ganzes Leben habe ich geschrieben, aber heute
weiß ich, dass 1994 durch das dichterische Aufarbeiten
eines Traumas eine Blockade meines Schaffens gelöst
wurde. Mein Beruf kommt also mir selbst zugute in meinem
dichterischen Schaffen, und mein dichterisches
Schaffen hilft mir in meinen Beruf.
Meine mir wichtigsten Bücher:
Emotionen. Gedichte, Tegra Verlag, Sursee 2000. – Dunkelblüten
– Lichtsamen. Gedichte, Verlag CH. Möllemann,
Borchen 2003. – Warte, bis die Seerose blüht, Roman,
Verlag CH. Möllemann, Borchen, 2006. – Halt inne. Blick in
eine andere Richtung. Gedichte, Sofia 2007. – Lausch auf
den Atem verborgenen Lebens. Gedichte für Nelly Sachs
und Paul Celan, Borchen 2007 (hierfür erhielt ich 2008 den
Horst Joachim Rheindorf-Preis des Bundes Deutscher
Schriftstellerärzte). – Geschichten (m)einer Kindheit. Erzählungen,
Sursee 2007. – Lichträume, Räume der Liebe
und des Lebens, bulgarisch-deutsch, Sofia 2008. Urformen,
bulgarisch-deutsch, Gedichte, Sofia 2009. – Gesicht
im Fenster, Gedichte, Wien 2011.
Die Bücher sind zu beziehen über: Dr. Helga Thomas, Hammerstr. 10, 79540 Lörrach, und beim Verlag.<7h5>