Mottenmutter Luise saß mit ihrem Mann Walter in einem alten Kleiderschrank zwischen den Wollpullovern und beobachtet ihre zarten, gelblichen Raupenkinder, die sich durch die Maschen fraßen.
„Schafwolle schmeckt ihnen“, knispelte sie, „sie schauen richtig glücklich aus.“
„Wo sind denn die Großen?“, brummte Walter und machte es sich an der Knopfleiste bequem.
„Du weißt doch, sie umsurren jetzt die Straßenleuchten und die Zimmerlampen und holen sich angesengte Flügel. In unserem Alter macht das Tanzen am Licht keinen Spaß mehr. Da sitzt man lieber warm im Schrank.“
„Zu unseren besten Zeiten haben wir alle Kameraden angetwittert und gemeinsam das Flutlicht im Stade de France zugebrummt, so dass die Menschen nicht mehr Fußball spielen konnten. Das war toll!“ Walter schlug aufgeregt mit den Flügel.
„Mach nicht so viel Wind, du bläst die Kleinen aus den Maschen.“
Mit einem Brausen erweiterte sich der Spalt der Schranktür, und sieben junge Motten landeten mit Stimmengewirr auf den Wollpullovern.
„Warum sitzt ihr hier im Schrank herum, wo man gerade jetzt so wunderbar um Lampen tanzen kann?“, piepste Daniel.
„Unsere Zeit der großen Aktionen ist vorbei“, brummte Walter, „uns tun die Wärme des Schranks, die Dunkelheit und die Ruhe gut.“
„Ich weiß, die Verdunklung der Flutscheinwerfer im Stade de France war eure Heldentat. Wir haben größeres vor. Wir wollen die Sonne verdunkeln.“
„Das Tageslicht wird euch so blenden, dass ihr den Weg nicht finden und leichte Beute für Vögel sein werdet“, mahnte Luise ängstlich.
Die sieben jungen Motten lachten hell: „Wir haben alle angetwittert. Es werden Tausende kommen und den Himmel verdunkeln.“ Sie rauschten hinaus ins Freie, um ihre Kameraden zu treffen.
Neugierig setzte sich Luise ans Fenster, um das Treiben der Jungmotten zu beobachten. Eine riesige dunkle Wolke von Motten verdunkelte den Himmel. Schwalben und Amseln schnappten sich einige der Nachzügler. Die Wolke entfernte sich und wurde kleiner und kleiner. Die Sonne brannte wieder unvermindert vom strahlend blauen Himmel. Dann regnete es plötzlich ausgetrocknete, tote Motten. Luise krabbelte wieder in den Pullover im Schrank.
„Und?“, fragte Walter.
„Selbst für so viele junge Motten war das Projekt zu groß. Sie haben sich übernommen.“
„Schade um die enthusiastischen Kinder. Nun sind sie weg, aber die nächsten sind schon in Arbeit“, knurrte Walter, rekelte sich und blickte nach den hungrigen Raupen in den Maschen.
Copyright Dr. Walter-Uwe Weitbrecht
Walter-Uwe Weitbrecht, Priv. Doz. Dr. med,
Neurologe, geb. 1945 in Stuttgart, Studium der
Medizin 1966–1971 in Freiburg i.Br., Assistenzarzt
an der Neuropathologie, Neurochirurgie und Neurologie
des Universitätsklinikum Freiburg 1972–
1979, Oberarzt der Neurologischen Klinik des
Christophsbad Göppingen und der Universitäten
Lübeck und Erlangen 1979–1985, 1985–2010
Chefarzt der Neurologischen Klinik des KKH
Gummersbach. Ärztlicher Leiter der DAA Physiotherapieschule
Gummersbach seit 1991. Autor/
Herausgeber mehrerer Fachbücher, multiple Zeitschriftenbeiträge, belletristische
Beiträge in Anthologien und im Almanach deutschsprachiger
Schriftstellerärzte.