Das rote Kaninchen
Bauer Stertzenbach hatte Rüben geerntet und, da er keinen Lagerplatz in der Scheune hatte, als Rübenmiete am Rande des Ackers aufgestapelt und mit einer dicken Folie bedeckt, um die Rüben vor dem Regen zu schützen. Er hatte zwei Äcker bearbeitet mit verschiedenen Rübensorten, die einen kleiner, die anderen größer.
Das Kaninchen Paul hatte das beobachtet und rannte ganz aufgeregt zu seinem Bruder Tim.
„Es gibt Rüben“, hechelte er, „so viele Rüben, dass man Speck für den ganzen Winter aufbauen könnte. Lass uns Rüben um die Wette essen.“
Tim schaute ihn verwundert an: „Was für Rüben? Möhren? Und was heißt um die Wette essen?“
„Nein, nein! Keine Möhren, große Zuckerrüben und etwas kleinere dunkle Rüben. Wettessen heißt, dass der gewonnen hat, der die meisten Rüben geschafft hat.“
„Egal welche?“
„Ja.“
Sie hoppelten durch die Furchen zu der Rübenmiete und als sie sie rochen, lief ihnen das Wasser zwischen den Zähnen aus dem Maul. Tim untersuchte die Rübenmieten und entschied sich für die kleinen dunklen Rüben. „Ich bin kleiner und nehme daher diese hier“, piepste er.
Paul, der Zuckerrüben sowieso lieber mochte, war einverstanden. So begannen sie, ihre Nagezähne in die Rüben zu schlagen und um die Wette zu essen. Tim hatte schon die dritte der muffig schmeckenden dunklen Rüben gegessen, als Paul keuchte: „Ich kann nicht mehr“, obwohl er noch nicht einmal eine ganze große Zuckerrübe geschafft hatte.
„Dann habe ich gewonnen!“, jubelte Tim und war froh, dass er nicht mehr weiter essen musste.
„Du schaust blutig aus!“, rief Paul, weil Tims Nase ganz von rotem Saft bedeckt war. Tim leckte mit der Zunge über die Nase, da war alles weg.
Am nächsten Tag, war Tim an allen hellen Stellen seines Fells knallrot. „Du hast rote Rüben gegessen“, lachte die Mutter.
Jetzt war Paul eifersüchtig, weil Tim so etwas Besonderes an sich hatte. Tim aber zuckte mit dem Fell, weil es juckte.
Paul rief: „Lass uns nochmal Rüben essen, und dieses Mal nehme ich die roten.“
Tim hatte nichts dagegen, denn die dunklen Rüben hatten ihm nicht geschmeckt, und so toll fand er die zwickende Rotfärbung nicht.
Als sie an den Rübenmieten ankamen stand dort der Bauer, fluchte und schlug nach ihnen mit der Peitsche. Sie sprangen in die Ackerfurchen und rannten Hacken schlagend um ihr Leben, da der Hund hinter ihnen her war. Sie hörten schon sein Hecheln direkt hinter sich, als sie den Bau erreichten und im letzten Moment unter der Erde verschwanden.
Copyright Dr. Walter-Uwe Weitbrecht)

Walter-Uwe Weitbrecht, Priv. Doz. Dr. med,
Neurologe, geb. 1945 in Stuttgart, Studium der
Medizin 1966–1971 in Freiburg i.Br., Assistenzarzt
an der Neuropathologie, Neurochirurgie und Neurologie
des Universitätsklinikum Freiburg 1972–
1979, Oberarzt der Neurologischen Klinik des
Christophsbad Göppingen und der Universitäten
Lübeck und Erlangen 1979–1985, 1985–2010
Chefarzt der Neurologischen Klinik des KKH
Gummersbach. Ärztlicher Leiter der DAA Physiotherapieschule
Gummersbach seit 1991. Autor/
Herausgeber mehrerer Fachbücher, multiple Zeitschriftenbeiträge, belletristische
Beiträge in Anthologien und im Almanach deutschsprachiger
Schriftstellerärzte.