Auf einem Hof bei Lindlar lebte eine Gruppe Gänse. Die Tochter des Bauers war ein Fan von Verdi-Opern. Vor allem die Musik der Oper Aida ließ sie oft bei offenem Fenster mit voller Lautstärke ertönen, so dass der Bauer, wenn er in der Nähe des Wohnhauses zu tun hatte, manchmal schimpfend rief: „Mach die Musik leiser. Das kann man ja nicht aushalten.“
Den Gänsen blieb die Musik nicht verborgen. Die meisten konnten nur wenig damit anfangen. Nur die Gans Anne war von der Musik beeindruckt, so dass sie Opernsängerin zu werden wollte. Die anderen Gänse hielten sie für verrückt, da sie wie alle Gänse nur ein „täää-tä-tä-tää“-Gekreische herausbrachte. Anne fragte ihre Mutter, ob sie das Singen erlernen könne. Diese antwortete: „Man kann alles lernen, wenn man es nur will.“
Da beschloss Anne, dass sie Gesangsunterricht nehmen wollte. Die Schwäne am Teich kannte sie gut. Sie ging zu Ihnen und fragte, ob sie ihr das Singen beibringen könnten.
Der alte Schwan schnatterte: „Wenn du mir vom Hof Brot bringst, dann lehre ich dich singen.“
Anne trottete zum Hof und stahl den Pferden etwas altes Brot, das der Bauer diesen hingelegt hatte.
Als sie damit zum alten Schwan kam, verschlang dieser es gierig, richtete seinen langen Hals auf und sagte: „Jetzt beginnen wir mit der ersten Stunde. Die nächsten Unterrichtsstunden musst du wieder mit Brot bezahlen.“ Er begann zu schnattern, stieß zwischendurch grelle Schreie aus und schnatterte dann: „Mach das nach!“
Anne blickte ihn verwundert an und krähte: „Das war doch kein Gesang. Schnattern und Schreien brauche ich nicht zu lernen. Das kann ich schon, seit ich aus dem Ei schlüpfte.“
Beleidigt quäckte der Schwan: „Wenn dir das nicht passt, dann geh doch zur Amsel!“
Sie sprang ins Wasser und begann zu gründeln. Anne war enttäuscht. Hatte sie doch den Schwan mit Brot bezahlt. Auch wusste sie nicht, wie sie mit der Amsel Kontakt bekommen könnte, die meist auf einem Baum saß. Einige Wochen vergingen, in denen sie hin und her überlegte, wie und mit wem sie einen Gesangsunterricht organisieren könnte. Da ergab es sich, dass eine Amsel nach einem kräftigen Sommerregenschauer auf der Wiese um den Gänseteich nach Regenwürmern suchte.
„Amsel, kannst du mir das Singen beibringen“, schnarrte Anne.
Die Amsel antwortete: „Sing mir etwas vor. Dann kann ich dir sagen, ob es mit dem Gesangsunterricht klappen kann.“
Anne begann zu schnattern und gellend „täää-tä-tä-tää“ zu kreischen. Die Amsel blickte sie mit schräg gelegtem Kopf an und piepste: „Du hast keine Singstimme. Es wird nicht möglich sein.“
Als Anne sie enttäuscht ansah, ergänzte die Amsel: „Man muss von Geburt an die Fähigkeit haben zu singen. Sieh dort die Bisamratte!“ Sie zeigte mit dem Schnabel in Richtung einer Bisamratte, die in der Wiese Gras aß. „Sie kann von Geburt an nicht fliegen.“ Das überzeugte Anne.
Copyright Dr. Walter-Uwe Weitbrecht
Walter-Uwe Weitbrecht, Priv. Doz. Dr. med,
Neurologe, geb. 1945 in Stuttgart, Studium der
Medizin 1966–1971 in Freiburg i.Br., Assistenzarzt
an der Neuropathologie, Neurochirurgie und Neurologie
des Universitätsklinikum Freiburg 1972–
1979, Oberarzt der Neurologischen Klinik des
Christophsbad Göppingen und der Universitäten
Lübeck und Erlangen 1979–1985, 1985–2010
Chefarzt der Neurologischen Klinik des KKH
Gummersbach. Ärztlicher Leiter der DAA Physiotherapieschule
Gummersbach seit 1991. Autor/
Herausgeber mehrerer Fachbücher, multiple Zeitschriftenbeiträge, belletristische
Beiträge in Anthologien und im Almanach deutschsprachiger
Schriftstellerärzte.