Die Gedankenfresser
Victor ist nervös. Der ranghöchste Präsident der Welt wartet auf seinen Vortrag. »Sir, wir haben einige Fehlermeldungen, doch die mit Abstand Interessanteste ist diese hier.«
»Nun erzählen Sie schon«, erwidert der Präsident ungeduldig.
»Von allen Personen, die eine Mensch-Maschine-Schnittstelle nutzen, fallen exakt zwölf aus der Reihe.«
»Aus der Reihe?«, echot Präsident Zabidar.
»Sie erlauben keinen Zugriff auf ihre Gedanken«, erläutert der blutjunge Assistent, der seine Entdeckung eher als erschreckend befindet als darüber stolz zu sein.
Der Präsident zuckt mit den Schultern, da ihm ganz offensichtlich die Tragweite der Aussagen unklar ist. »Was genau wollen Sie damit sagen?«
»Unser Projekt wird ständig verbessert. Doch es scheint Nutzer zu geben, die unser top secret Anliegen nicht nur spüren, sondern sogar aktiven Widerstand leisten.«
»Widerstand?«
»Wir nennen ihn User 42 – in Anlehnung an Douglas Adams Science-Fiction-Roman.«
Doch das will der Präsident nicht wissen. Er winkt ab.
»User 42 leidet wie der berühmte Physiker Stephen Hawking an einer progressiven Bulbärparalyse und ist an den Rollstuhl gefesselt«, erklärt Victor. »Ihm wurde ein Human Machine Interface, ein HMI, ins Gehirn implantiert. Mit dessen Hilfe steuert er seinen Rollstuhl, seine häusliche Umgebung, den Haushaltsroboter und natürlich auch seinen Computer mit Sprachausgabe. Unsere Kundschaft wird jedoch nicht über unser kleines geheimes Experiment informiert. Bei der Registrierung und Einrichtung des Systems wird der Kunde aufgefordert, an alle möglichen Lebensumstände und Gegenstände zu denken, und natürlich zeichnen wir parallel das EEG, also die Hirnstromkurven, auf. Die Auflösung letzterer Untersuchung ist bei einem Hirnimplantat deutlich höher. Das bedeutet, wir können den Inhalt der Gedankengänge wesentlich besser analysieren. Die Kunden wissen nicht, dass wir das EEG kontinuierlich aufzeichnen und mit dem abgleichen, was die Person simultan hierzu tut. Mittlerweile können wir die grundlegenden Gefühlszustände sehr gut differenzieren. Wut, Angst, Zuneigung, Ekel, innere Ruhe und Ausgeglichenheit, Traurigkeit und sogar komplexe Wünsche wie Kauf- und Wolllust lassen sich wunderbar erfassen. Es ermöglicht uns, unter Abgleich aller weiteren Daten, ein Personenprofil zu erstellen, das seinesgleichen sucht.«
»Schön«, unterbricht der Präsident. »Aber was ist denn nun bei User 42 anders als beim Rest der Menschheit?«
Victor macht einen langen Seufzer und spaziert einmal um das Pult, bevor er fortsetzt. »User 42 hat zunächst unsere Aktivitäten zugelassen, da er zu Beginn keinen weiteren Wunsch verspürte, als das System einzurichten, um die Freiheit zurück zu erlangen, die ihm durch die Krankheit gestohlen war. Nach und nach stellten wir aber fest, dass er zusätzlich Interferenzsignale aussandte, die den Inhalt seiner Gedankengänge quasi löschte. Dieses Verhalten bezog sich vor allem auf intellektuelle Gedankengänge und Gefühlsausbrüche. Wenn jemand zehnmal am Tag wütend ist und danach gar keine Gefühle mehr zu haben scheint, stimmt etwas nicht. Medikamente waren auch nicht Schuld. Zuerst prüften wir natürlich aus der Ferne die Funktionalität des Implantats, welches einwandfrei arbeitete. User 42 selbst beklagte weder Funktionsausfälle noch Systemfehler. Irgendwann erhielten wir nur noch Interferenzmuster ohne jegliche Aussage. Parallel hierzu beobachteten die versteckten Kameras sein Tun. Wir sahen häufig, wie User 42 wütend Gegenstände durch den Roboter an die Wand katapultierte, ohne dass wir die typischen Signale für diese Gefühlsqualität empfingen. User 42 pflegt außerdem die Gewohnheit, jeden Montag um 22 Uhr einen Pornofilm zu schauen. Wo vorher ein Sammelsurium von Gefühlswolken auftauchte, war plötzlich nur noch Rauschen.«
Der Präsident grinst und ist insgeheim froh, dass niemand in der Lage ist, seine frivolen Gedanken zu lesen, und sicherlich würde er sich niemals freiwillig einen HMI einbauen und installieren lassen, wie man es zum Beispiel für Gefängnisinsassen und psychiatrische Patienten bereits plant.
Victor kratzt sich an der Stirn. »Dann kam Tag X.«
Der Präsident zieht die Augenbrauen hoch. »Tag X?«
»User 42 sandte uns via HMI und simultaner WhatsApp eine konkrete Nachricht. Sehr konkret.«
»Konkret?«
»Eine Nachricht, die er offen kommunizierte, ohne dabei auch nur ein Quentchen Angst zu spüren.«
»Und?«
Das Zitat von User 42 erscheint an der Projektionswand. »Ihr habt versucht, meine Gedanken zu lesen und wart dennoch nicht in der Lage, sie nur ansatzweise zu verstehen. Euer Spiel ist zu Ende. Adieu.«
Stille herrscht im Konferenzraum.
Der Präsident ist sichtlich unzufrieden. »Wo befindet sich User 42 jetzt?«
»Wir wissen es nicht«, und seine Stimme klingt bedauernd, »er ist verschwunden, bevor wir über das HMI letale Signale hätten senden können.«
»Tödliche Botschaften via HMI?«, vergewissert sich der Präsident. »Das können Sie etwa tun?«
Victor bestätigt. »Wir hätten die HMIs nicht konstruieren dürfen, wenn diese Funktion nicht integriert worden wäre, Sir. Das war der nicht öffentlich publizierte Wunsch der Bundesregierung.«
Natürlich weiß es der Präsident. Schließlich war es seine Idee und damit quasi Voraussetzung für den Startschuss der HMIs.
»So, so. Und wie funktioniert das Todesurteil auf Knopfdruck?«
Victors Pupillen weiten sich. Er ist lediglich Informatiker und kein Scharfrichter. Oder doch? »Laserkoagulation, Sir. Der integrierte Laser ist in der Lage, die Nervenzellen des Atem- und Kreislaufzentrums durch Hitze zu zerstören.«
Präsident Zabidar rutscht mit seinen riesigen Zähnen auf der Unterlippe hin und her. Die moderne Variante der Guillotine fasziniert ihn. »Wie kann User 42 verschwunden sein, wenn die versteckten Kameras alles aufzeichnen?«, hinterfragt er.
Auf diese Frage hat Victor gewartet. »Mit Absetzen der Nachricht wurden alle Kameras deaktiviert. Als die Agenten fünfzehn Minuten später in seinem Haus eintrafen, waren sämtliche Spuren verloren. Er gilt seit zwei Tagen als verschollen.«
»Keine Frage, dass die Seals ihn finden müssen und werden«, antwortet der Präsident. »Wir müssen alle natürlich vorkommenden Telepathen als potentielle Feinde betrachten. Was schlagen Sie vor, meine Damen und Herren?«
Noch bevor sich jemand äußert, kontert der Assistent. »Wir können sie nicht vernichten, Sir.«
»Und ob!«, schlägt der Präsident mit der Faust auf den Tisch.
»Nein«, erwidert der Assistent. »Eine Legende aus Zeiten der Sumerer berichtet, dass jeder Tod eines Gerechten unmittelbar durch die Geburt eines weiteren Gerechten ausgeglichen wird.«
»Welche Erkenntnis sagt Ihnen, dass ausgerechnet die Telepathen die Gerechten sind?«
Victor holt tief Luft. »Die Anzahl der Telepathen entspricht der Anzahl der Gerechten.«
»Das ist kein Beweis«, entgegnet der Präsident. »Allenfalls eine zufällige Korrelation.«
»Nein, Sir«, erwidert Victor. »Es gibt eine weitere Botschaft.«
»Die was besagt?«
»Exakt in jenem Moment, als User 42 seine Nachricht schrieb, verkündete der Rest der erlesenen Ritterschaft simultan einen sumerischen Zauberspruch.«
»Zauberspruch?«, lacht Zabidar höhnisch.
»Der bei der Schmelze von Zinn und Kupfer zu Bronze angewandt wurde. Aus dem 4. Jahrtausend vor Christus. Beeindruckend, nicht?«
Das will Zabidar aber nicht wissen. »Was soll der Unfug!«
Victor ignoriert den Gefühlsausbruch des Präsidenten. »Es ist symbolisch gemeint, Sir. Mensch und Maschine verschmelzen zu einem biologischen Roboter.«
»Ja, und?«
»Sie fügten einen Anhang hinzu.«
»Einen Anhang?«
»Sie verlangen, unverzüglich die Produktion der HMIs einzustellen, solange sie potentiell als Waffen eingesetzt werden können. Die Gerechten wissen von der Technologie des Gedankenfressers, der alle entzifferten Gedanken automatisch löscht und von der Guillotine, die sekundenschnell tötet.«
Zabidar zuckt mit den Achseln. »Na und! Sie können verlangen, was sie wollen. Es interessiert mich nicht.«
Victor holt abermals tief Luft. »Sir, die Gerechten können sich in unsere HMIs einloggen und das System umprogrammieren.«
»Wie das?«
»Sie kommen uns zuvor. Sie sind in der Lage, unsere Gedanken zu lesen, aber wir die ihrigen nicht.«
»Sie sagten einloggen und umprogrammieren. Was ist passiert?«
»Der Eindringling benötigt keine IP, keinen PC, und erst recht kein Interface, um sich einzuloggen. Wiedas funktioniert, ist unklar. Aber wenn sie einmal das System infiltriert haben, können sie nach Lust und Laune konfigurieren.«
»Woher wissen Sie das?«
Victor seufzt. »User 06 und 07 waren unsere ersten Kollegen, die sich freiwillig eine Testversion der HMIs implantieren ließen.«
Zornerfüllt errötet der Präsident. »Soll das heißen … wir haben zwei unserer besten Agenten verloren?!«
Victor nickt. »Ja, sie haben die Fronten gewechselt.«
Der Präsident schnauft. »Das ist eine Kriegserklärung!«
Imaginäres Gelächter materialisiert sich an der Projektionswand. »Euch verdammten Gedankenfressern werden wir niemals den Raub der Gedankenfreiheit gestatten!«
Dr. med. Cordula Sachse-Seeboth, geb. 1977 in Mühlhausen in Thüringen, 1996 Abitur am Eichsfeld-Gymnasium in Duderstadt, Medizinstudium an den Universitäten in Magdeburg und Greifswald, 2004 Promotion, zwei Söhne. Ärztliche Tätigkeiten in den Fachgebieten Transfusionsmedizin, Mikrobiologie, Anatomie, Klinische Pharmakologie und Mitwirkung in mehreren klinischen Studien. Seit 2014 bin ich in der Inneren Medizin tätig, Zurzeit arbeite ich in einer Allgemeinarzt-Praxis.
Bereits in meiner Jugend habe ich Gedichte und Kurzgeschichten verfasst. Sowohl das kreative Schreiben als auch das Musizieren und Komponieren am Klavier sind für mich wesentliche Elemente im Leben. Sie haben befreiende, heilende und erholsame Wirkung. Außerdem beschäftige ich mich gern mit Enkaustik (https://rapidot.de/kunstgalerie/nggallery/thumbnails)
„Rapidot“ ist mein Debütroman. Ursprünglich plante ich eine Übersichtsarbeit über Betrug in Klinischen Studien. Ich entschied mich, den Weg der Belletristik einzuschlagen. Auf diese Weise erreicht meine Botschaft ein größeres Publikum. Literatur besitzt das Potential, die Medizinlandschaft ehrlicher und humaner zu gestalten. „Rapidot“ ist ein Anfang.
Falls ich Ihr Interesse geweckt habe, besuchen Sie meine Webseite www.rapidot.de, oder schreiben Sie mir eine E-Mail an rapidot@rapidot.de.