Als meine Großmutter fragte – es war eigentlich nur der Form nach eine Frage – „na, du betest sicher nicht?“, spürte ich all die ablehnenden Gefühle in ihrer Stimme, die sie gegen meine Mutter hatte. Ich drückte mich ganz fest ins Bett und sagte mutig zu ihrem Gesicht, das über mir war, jeden Moment bereit, sich herab zu senken und mit den unvermeidlichen Gutenacht-Kuss zu geben: „natürlich bete ich“. Auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ, sie war überrascht. Aber nun wollte sie mit mir beten und wollte wissen, welches denn mein Gebet sei.
In meinem angstvollen Erschrecken kam mir aber eine Erinnerung zu Hilfe. Damals, vor Jahren, als ich noch klein gewesen war und mit anderen Kindern im Krankenhaus weit weg von zuhause gelegen hatte, hatten mich, das heißt uns, die beiden großen Mädchen nach unseren Gebeten gefragt. Sie hatten schon die Abende zuvor, wenn die Krankenschwester Gute Nacht gesagt, das Licht gelöscht und die Notrufklingel über das Bett der Großen aufgehängt hatte, den Tag beendet mit: „Jetzt beten wir“. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, was beten ist, aber ich hatte Bilder von schönen Frauen gesehen, die ihre Hände aneinanderlegten und ein Dach formten (wie bei dem hässlichen Fingerspiel „Petze, Petze ging in Laden. . . “), das tat ich dann auch und ließ die Bilder des Tages an mir vorbeiziehen. Aber dazu brauchte es diese Handhaltung nicht und ich wurde wieder wach. Beten musste noch etwas anderes sein. Die schönen Frauen lächelten, als ob sie jemandem zuhörten und schauten dabei auf ihre Hände. Ich verfolgte nun den Tagesablauf vom Ende her, im Rhythmus des sanften Schaukelns, und lauschte, ob der Engel neben meinem Bett mir etwas zuflüsterte. Das war so anstrengend, dass ich müde wurde, einschlief, bevor ich beim Morgen angelangt war. Reihum, in der Reihenfolge der Betten, sagten wir unsere Gebete auf. Die kleinste, noch im Gitterbettchen, die bald ein Engelchen sein würde, sagte ihres hastig, noch ganz in kindlicher Sprache:
Ich bin klein, mein Herz ist rein,
soll niemand drin wohnen
als Mama und Papa allein.
Das Gebet gefiel mir nicht, ich konnte mir nicht mein Herz als Puppenstube vorstellen und warum Mama und Papa allein, warum nicht die Großmütter und Großväter? Das Mädchen, das wohl so alt war wie ich, das rechts neben meinem Bett lag, sagte etwas von wachenden Engeln und zum Schluss sprach sie von ihrem Vater, der in der Fremde beschützt werden solle und dessen Heimkehr sie erwünschte.
Dann war ich an der Reihe. Was sollte ich sagen? Ich wusste nicht, dass zum Beten nicht nur Bilder gehören, sondern auch Worte! Ich hatte an diesem Tag auf dem Spaziergang (ich durfte zum ersten Mal auch raus in den Wald und die Berge) Glockenblumen gesehen und sie hatten eine Flut von wunderbaren Gefühlen in mir ausgelöst. Sie sahen aus wie die betenden Frauen, ganz still lauschten sie auf ihren Glockenklang:
Die Glockenblumen läuten
und das Gebet beginnt.
Die Mädchen fanden es wunderschön, aber wollten wissen, wie es weitergeht. Ich meinte, das wisse ich nicht, es sei doch immer anders, je nachdem wie der Tag gewesen sein. Was beteten die beiden Großen? Das gleiche Gebet:
Breit aus die Flügel beide . . .
Es gefiel mir und ich verstand, dass sie sich zuflüsterten, ihr Gebet sei das schönste.
Das erlebte ich alles auf einen Blick, als das Gesicht meiner Großmutter wartend über mir schwebte. „Breit aus die Flügel beide“. Sie freute sich, aber wartete und sagte dann weiter, als ob sie mir vorsagte:“ und nimmt ein Küchlein ein. . . So ging es Zeile für Zeile. Ich hörte später, nachdem sie mich lieb geküsst hatte, wie sie meinte: „War das Kind aufgelegt, sie hatte vor Aufregung alles vergessen“.
Ich schlief schlecht diese Nacht nach meinem neuen Gebet, denn ich versuchte, es nicht mehr zu vergessen, denn morgen könnte ich doch nicht schon wieder aufgeregt sein.
Copyright Dr. Helga Thomas. Der Text wurde bei dem BDSÄ-Jahreskongress 2014 vorgetragen zum Thema „Gott und wir“.
Aus: Helga Thomas, Geschichten (m)einer Kindheit, Sursee 2007, S.f
<h5>Dr. phil. Helga Thomas. Geboren
am 31. Januar 1943 in Berlin.
Ausbildung und Arbeit als Analytikerin, Psychotherapeutin.
1976 Diplom am C. G. Jung-Institut. Für meinen Beruf war
die Erkenntnissuche wichtig. Mit 15 entdeckte ich nach der
Flucht aus Ostberlin das Briefe- und Tagebuch-Schreiben,
und mit 18 Jahren kam der Durchbruch zur Lyrik, meiner
eigentlichen Domäne. Vor meiner Ausbildung am Jung-Institut hatte ich Slavistik
und Germanistik studiert, und zu diesem Zweck hatte
ich noch zur Zeit des eisernen Vorhangs ein Jahr in Sofia
studiert, um Material für meine Doktorarbeit zu sammeln.
Seit 2003 bin ich mindestens zweimal im Jahr für längere
Zeit in Sofia, um dort Analysen und Supervisionen,
Seminare und Vorträge durchzuführen. Es ist „stimmig“,
dass in Bulgarien ein Teil meiner Bücher jetzt erschienen
ist, die Lyrik zum Teil zweisprachig.
Ich empfinde meine beiden Kinder als das Zentrum meines Lebens,
auch wenn sie inzwischen erwachsen sind (Tochter, geboren
1978, Heilpädagogin, Sohn, geboren 1979, Mediziner),
und meine beiden Enkeltöchter Luisa, geboren 2007 und
Mathilda, geboren 2009. Immer ist ein Hund an meiner
Seite.
Mein ganzes Leben habe ich geschrieben, aber heute
weiß ich, dass 1994 durch das dichterische Aufarbeiten
eines Traumas eine Blockade meines Schaffens gelöst
wurde. Mein Beruf kommt also mir selbst zugute in meinem
dichterischen Schaffen, und mein dichterisches
Schaffen hilft mir in meinen Beruf.
Meine mir wichtigsten Bücher:
Emotionen. Gedichte, Tegra Verlag, Sursee 2000. – Dunkelblüten
– Lichtsamen. Gedichte, Verlag CH. Möllemann,
Borchen 2003. – Warte, bis die Seerose blüht, Roman,
Verlag CH. Möllemann, Borchen, 2006. – Halt inne. Blick in
eine andere Richtung. Gedichte, Sofia 2007. – Lausch auf
den Atem verborgenen Lebens. Gedichte für Nelly Sachs
und Paul Celan, Borchen 2007 (hierfür erhielt ich 2008 den
Horst Joachim Rheindorf-Preis des Bundes Deutscher
Schriftstellerärzte). – Geschichten (m)einer Kindheit. Erzählungen,
Sursee 2007. – Lichträume, Räume der Liebe
und des Lebens, bulgarisch-deutsch, Sofia 2008. Urformen,
bulgarisch-deutsch, Gedichte, Sofia 2009. – Gesicht
im Fenster, Gedichte, Wien 2011.
Die Bücher sind zu beziehen über: Dr. Helga Thomas, Hammerstr. 10, 79540 Lörrach, und beim Verlag.<7h5>