Beim Spazierengehen mit meinem Hund freue ich mich an einem sonnigen Februartag über die vielen Krokusse, die aus dem Gras spießen. Und während die Krokusse blühen, fällt mir ein, dass der Rasen auch in diesem Jahr wieder ein komplexes Programm abspult.
Wie eine Lochkarte noch heute unsere Waschmaschine steuert, und ihr sagt, wann das Wasser abgepumpt werden soll und wann geschleudert wird. Lochkarten gibt es seit dem 19. Jahrhundert, und sie werden immer noch verwendet.
Wo sitzt die Lochkarte für unseren Rasen?
Wir wissen ziemlich genau, dass er bald, nachdem die Krokusse verblüht sind, zu wachsen beginnt. Dann kommen auch der Klee und die Gänseblümchen.
Später treibt der Bambus durch das Gras, man muss ihn hundert Mal abschneiden, schließlich gibt er auf.
Und an einem schönen Sommerabend starten plötzlich, wie auf Kommando, tausende fliegender Ameisen aus dem Rasen.
So geht das jedes Jahr.
Wo die Lochkarten unserer Enkel sitzen, wissen wir ziemlich genau. Die Steuerung ist beeindruckend. Da werden Gene angeschaltet, und dann wachsen Zähne aus den Kiefern, und dann werden die Gene wieder ausgeschaltet.
Dann der Zahnwechsel.
Mit etwa 12 Jahren fangen die Keimdrüsen an, zu arbeiten. Im Vergleich zu anderen Säugetieren ist das spät im Leben, man nennt es Pubeszenz, und die mündet unweigerlich ins Erwachsenenalter.
Was dann alles lochkartengesteuert anders wird: Der Bartwuchs, die Haarfarbe, der Blutdruck, der Bauch, der Haarausfall…
Man kann Gene, die in der Kindheit angeschaltet waren, und die im Erwachsenenalter „schlafen“, auch wieder aktivieren. Das passiert zum Beispiel bei Reparaturvorgängen und Heilungen nach Verletzungen.
Der Ablauf der Lebensuhr kann gestört werden: Durch Mutationen können Tumore entstehen, Strahlung kann Alterungsvorgänge erheblich beschleunigen.
Wir können auch die Lebensuhr manipulieren:
Unser Lebensstil und unsere Ernährung beeinflussen unser Älterwerden genauso wie Sport. Sport verbessert nachgewiesenermaßen die Situation an den Telomeren, den Enden unserer Chromosomen, die nach jeder Zellteilung ein bisschen kürzer werden.
Auch das Mikrobiom in unserem Darm, unser Blut, Schokolade mit viel Kakao und verschiedene Medikamente beeinflussen das Altwerden.
Was bei der ganzen Geschichte das Wichtigste ist, sei dahingestellt. Eine der ältesten Frauen auf diesem Planeten ist über 120 Jahre alt-
und raucht.
Das tut unsere Mutter mit ihren erst 100 Lenzen nicht.
Sie lebt einfach – gesund.
Und vielleicht hat sie eine besondere Lochkarte, wie man sie in automatischen Musikinstrumenten findet. Diese sogenannten Lochbandrollen können ziemlich lange laufen.
Aber nicht endlos,
weil alles, was einen Anfang hat, auch ein Ende haben muss,
wie auch diese Gedanken.
Kehren wir zurück auf den grünen Rasen und freuen uns über die vielen schönen Blumen zu dieser Jahreszeit. Die Uhr läuft.

Jahrgang 1957, geboren in Braunschweig. Nach der Schulzeit habe ich in Kiel Medizin studiert und mich in Norddeutschland, insbesondere in Schleswig-Holstein, richtig verliebt. Norddeutschland bin ich treu geblieben – meine Facharztausbildungen habe ich in Lübeck absolviert, dann bin ich als Chef einer Chirurgischen Klinik nach Bremen gegangen. Seit über 15 Jahren lebe ich mit meiner Familie im kleinsten Bundesland. Wissenschaftlich habe ich über Lymphome gearbeitet und damit 1983 promoviert. Habilitiert habe ich mich 1991 in Lübeck über die Zertrümmerung von Gallensteinen. Seit 1996 Professor für Chirurgie. Ich arbeite hauptsächlich auf dem Gebiet der Gefäßmedizin und leite seit 2003 ein Gefäßzentrum an dem Klinikum Bremen-Nord
Neben wissenschaftlichen Publikationen schreibe ich kulturkritische Essays, Satire, Prosa, Geschichten über Norddeutschland, insbeson-dere über unsere nördlichste friesische Insel. Mehrmals habe ich mit Bremer Ärzten in der hiesigen Stadtbibliothek vorgetragen, schließlich ist die Medizin eines der Lieblingsmotive in der Literatur.
Warum ich schreibe? Am Grab von Kurt Tucholsky in Schweden steht eine Inschrift aus dem „Sudelbuch“, gestiftet vom Deutschen Bot-schafter in Schweden anlässlich des 75. Todestages des Publizisten und Satirikers: „Eine Treppe: Sprechen, Schreiben, Schweigen“.
Auch ich glaube an eine Hierarchie der Strukturiertheit des Denkens. Die unstrukturierteste Art des Denkens ist das Träumen. Hierbei geht alles durcheinander: Erlebtes, Erwünschtes, Geschehenes, Befürchtetes. Das Denken im Wachzustand ist demgegenüber realitätsbezogen, dennoch sprunghaft, situativ, reaktiv und den Eindrücken der Sinnesorgane folgend. Eine Hierarchiestufe höher steht das Sprechen. Sprechen erfordert eine Ordnung der Gedanken und eine Unterscheidung in Wichtiges und Unwichtiges. Gesprochenes kann aber nicht rückgängig gemacht werden. Gesagt ist gesagt.
Schreiben dagegen ermöglicht die Ordnung von Gedanken in weit hö-herem Maße: Sätze können umgestellt, verschachtelt, getrennt oder verbunden werden. Schwierige Gedanken können durch Bilder illus-triert werden, wichtige durch Fußnoten untermauert. Schreiben ist eine Investition.