Eva hatte die verbotene Frucht der Erkenntnis gepflückt, weshalb die Menschen verdammt waren, außerhalb des gelobten Paradieses zu leben. Millionen Jahre später wiederholte sich dieses Ereignis mit Hilfe modernster Technik. Das Augen öffnende High-Tech-Gerät tauften die Ingenieure »EVA«. Sie erzeugte detailreiche Bilder höchster Auflösung und erlaubte erstmals die Analyse lebender neuronaler Netzwerke. EVA war ein revolutionäres, leistungsstarkes 14 Tesla-MRT. Routinemäßige MRT-Bilder wurden hingegen in 3 Tesla Geräten angefertigt. Zuerst untersuchten die Wissenschaftler Gehirne von Schimpansen, bevor sie sich an menschliche Probanden wagten. Man befürchtete, dass derart starke Magnetfelder Überhitzungsschäden an Nervenzellen verursachen könnten. Nichts dergleichen wurde beobachtet, als EVA auf die Probe gestellt wurde. EVA lieferte phänomenale Daten. Damit war die Funktionsweise des Gehirns noch lange nicht vollständig geklärt und komplettiert. Dem Heiligen Gral der Künstlichen Intelligenz war man aber zum Greifen nah.
Da Schimpansen nicht in menschlicher Sprache ihre Erlebnisse und Eindrücke schildern konnten, entging den Forschern die wichtigste Information. Schimpansin Juno verhielt sich im Anschluss an die Untersuchung auffällig anders, weshalb man sich entschied, eine Hirnbiopsie zu entnehmen. Der befürchtete Hitzeschaden ließ sich nicht bestätigen. Die Forscher spekulierten, ob starke Magnetfelder die Funktion von Nervenzellen in irgendeiner Weise beeinflussen, fanden aber keinerlei substantielle Hinweise hierfür. Das Experiment wurde mehrfach an verschiedenen Menschenaffen wiederholt. Erneut wiesen die Tiere ähnliche Verhaltensänderungen auf. Die Hirnstromlinien blieben unverändert. Biopsien und sämtliche Laborergebnisse waren allesamt unauffällig. Intelligenztests und diverse Testbatterien offenbarten nicht, was wirklich geschehen war.
Nur eines stand fest: Sie verhielten sich anders.
Sie verlagerten ihr Interesse auf andere Gegenstände und Subjekte. Juno betrachtete bevorzugt menschliche Babys, die von ihren Müttern versorgt wurden. Juno schaute Kinderfilme, fand aber keinen Gefallen an Krimis und schaltete den Bildschirm aus, wenn einem Lebewesen etwas Negatives widerfuhr. Junos Laune war um Längen besser. Nichts und niemand konnte sie ärgern oder frustrieren. Eines Tages saß sie stundenlang am gleichen Fleck, bis den Verhaltensforschern klar wurde:
Juno meditierte.
An einem sehr regnerischen Tag war Juno die einzige Schimpansin, die sehr glücklich auf das Erscheinen von Eram reagierte, der soeben von EVA zurückgekehrt war. Beide Tiere schlossen sich in die Arme und wurden unmittelbar ein Pärchen. Und das, obwohl sie vor Junos Verwandlung sehr oft miteinander gestritten hatten.
Juno und Eram waren in der Lage, andere Tiere, die von EVA untersucht worden waren, zu erkennen. Es war, als würden die Tiere Frieden schließen und gemeinsame Pläne schmieden, sobald sie mit EVA in Kontakt geraten waren.
Nachdem die Testreihe abgeschlossen war, stand zweifelsfrei fest, dass keine Ethikkommission dieser Welt die Durchführung an einem menschlichen Probanden genehmigen würde. Das hieß aber nicht, dass dieser Versuch unversucht blieb.
»Wir haben Millionen investiert und unsere Karrieren aufs Spiel gesetzt, um eine der bedeutsamsten Fragen der Menschheit zu klären, und nun sollen wir kurz vor dem Ziel alle Zelte abreißen?«, beschwerte sich Chefingenieur Marquês, der die grenzenlose Dummheit der Mediziner nicht begriff. Zwei philosophische, nicht harmonisierbare Weltansichten prallten aufeinander.
Niedergeschmettert trabte nach der Pressekonferenz der engste Kreis des Forschungsteams in die Küche, kochte Kaffee und bemitleidete sich gegenseitig.
»Wir brauchen einen Wissenschaftsjournalisten, der so lebhaft und exakt wie möglich berichten kann«, erklärte Marquês.
Maria sah ihn skeptisch an. »Was hast du vor?«
»Allen Affen geht es gut, um nicht zu sagen: besser«, grinste er diabolisch.
Sie ahnte bereits, zu was ein Marquês in der Lage war. »Du verlangst einen Zeugenbericht?«
Marquês nickte. »EVA ist ein Orakel«, antwortete er. »Ein Meisterwerk.«
Entschlossen blickte Marquês in die Runde. »Ich werde euer erster Proband sein.«
Eine Mischung aus Überraschung und Entsetzen schwappte über ein Dutzend Kaffeebecher, und einer davon tränkte die Jeanshose von Harry nass.
»Auf gar keinen Fall!«, verkündete er, denn er war keinesfalls gewillt, die Knöpfchen für Marquês zu drücken. Seine Hände beschmutzen? Niemals!
Doch Marquês hatte vorgesorgt. »Die Maschine läuft vollautomatisch. Sie startet auf meinen Befehl und stoppt, wenn ich es verlange.«
Maria verschluckte sich. »Irrtum«, widersprach sie als Erste. »Du bist nicht in der Lage, die Untersuchung abzubrechen, sobald du in Schwierigkeiten gerätst. Und bevor wir erkennen, was geschehen ist, ist es möglicherweise zu spät.«
Marquês schüttelte den Kopf. »Nach zwanzig Minuten liegen alle Bilder vor, und die Maschine bricht selbst ab.«
Maria stöhnte und schnaufte. »Was ist, wenn uns das Orakel überlistet, bevor du und wir intervenieren können?«
Marquês zuckte mit den Schultern. »Na und? Vielleicht ist es exakt das, was ich will. Überlegt doch mal! Den Affen ist ein Licht aufgegangen. Wer von diesen Schwachköpfen da draußen befürchtet die Erleuchtung der Welt? Falls ich Recht habe, ist es die Erlösung, nach der wir uns alle sehnen; wenn nicht, dann bin ich im Anschluss wenigstens entspannt und es ist mir völlig gleichgültig, dass unser wichtigstes Forschungsprojekt auf Eis gelegt wurde.«
Marquês seufzte kurz, dann setzte er grinsend fort. »Schiebt mich in EVAs Röhre, ich will mich mit der Erkenntnis ordentlich vereinigen.«
Maria verdrehte die Augen. Ohne auf seine sexistische Anspielung einzugehen, blieb sie vehement beim Nein.
Stillschweigend öffnete Marquês den Käfig seiner Lieblingsratte Emma. Er streichelte das Tier und ließ es auf seiner linken Schulter sitzen. »Emma«, sagte er. »Zeig ihnen, was du kannst.«
Das kleine Wesen wartete auf Befehle. »Harry, such dir ein Ziel aus, wo sich Emma hinbewegen soll, ohne dass du auch nur hinschaust oder es laut aussprichst«, verlangte Marquês.
Bevor er sich gegen den Wunsch seines Chefs äußern konnte, hatte Emma längst ihren Bestimmungsort erreicht. Sie war blitzschnell auf Harrys rechte Schulter gesprungen. Zur selben Zeit ließ er seinen Kaffeebecher fallen. Und dann wünschte er, sie möge verschwinden. Da dies aber kein konkreter Bestimmungsort war, blieb Emma verwirrt sitzen. Maria wünschte sich das Tier dort hin, woher es gekommen war, bevor noch mehr Unsinn geschah. Emma gehorchte und lief auf schnellstem Weg zu ihrem Käfig. Das gefiel Sophia nicht. Sie wollte es auch ausprobieren. Ergo wünschte sie, Emma solle zur PC-Tastatur laufen und auf die größte Taste drücken. In diesem Falle handelte es sich um die Leertaste, und erneut hatte Emma ihre Fähigkeiten bewiesen. Sophia erblasste, so entsetzt war sie. Blieb nur noch Michael übrig, der zu wählerisch war, sich festzulegen. In letzter Sekunde fiel ihm doch noch was ein. Über dem Stuhl hing Marias Strickjacke, die über eine üppige Seitentasche besaß.
Maria schrie laut auf. »Schluss jetzt!«, forderte sie, und Marquês entfernte Emma kommentarlos aus Marias Jacke und befahl seiner Freundin, sich ruhig zu verhalten.
»Emma war in der Röhre«, fasste Michael seelenruhig zusammen. »Und scheint intakt geblieben zu sein.«
»Also so würde ich das nicht bezeichnen«, erhob Sophia Einspruch.
Harry war sauer über seine zerbrochene Lieblingstasse. »Wenn dieses Biest Gedanken lesen kann, will ich nicht wissen, was die Affen planen zu tun.«
»Ganz recht«, stimmte Maria zu. »Und darum wird niemand von euch in die Maschine kriechen. Niemand!«
Marquês lachte. Er wollte gar nicht damit aufhören.
Maria bedachte ihn mit bösen Blicken, bis ihr dämmerte, was sein Lachen bedeutete. »Marquês? Marquês!«
Er unterbrach jäh das Lachen und tippte auf die PC-Tastatur ein. »Hier, das sind meine Bilder. Brilliante Bilder eines brillianten Genies, nicht wahr? Sucht, solange ihr wollt. Die wesentliche Information kann man darin nicht erkennen. Weder bei mir noch bei den Affen oder bei Emma.«
»Marquês!«, schimpfte Maria dazwischen, aber er wusste es zu ignorieren.
»Es fühlt sich wie ein Upgrading an. Es ist, als wären zwei Welten voneinander getrennt gewesen, die jetzt eng miteinander verwoben sind. Ich habe den Apfel gegessen und bin EVA mehr als dankbar dafür«, erklärte er.
Entsetzt starrte ihn das Team an. »Was hast du getan!«, beklagte sich Maria.
Marquês zuckte mit den Schultern. »Die Maschine der Erkenntnis entwickelt.«
Maria tobte. »Hast du eine Ahnung, was das bedeutet!«
»Na klar«, schaute er sie amüsiert an. »EVA koppelt das Bewusstsein an die Seele.«
»Das meine ich nicht«, schrie sie fast. »Sie werden es erfahren, und wahrscheinlich wissen sie es bereits.«
Er ignorierte sie. »Ich erzähle euch meine Geschichte. Dann entscheidet einfach selbst, ob ihr den Apfel erntet, oder nicht.«
Es folgte ein langer Seufzer.
Alle schwiegen, als Marquês seine Runde fragend anschaute.
»Was muss geschehen, damit sich das Bewusstsein seiner Seele bewusst wird?«
Marquês erwartete keine Antwort. Er räusperte sich und begann seine Geschichte zu erzählen, als würde der Schöpfer selbst durch ihn sprechen.
»Was geschieht, wenn sich das Bewusstsein seiner Seele bewusst wird?«
Die Menschheit stand erst am Anfang ihrer geistigen Entwicklung. Das Wissen, das Marquês mit seinen Kollegen zu teilen gedachte, war nicht für ihre Ohren bestimmt.
Marquês sprach ungeachtet dessen weiter.
»Die Schnittstelle hat keine dreidimensionale Adresse, zu der man sich navigieren lassen kann. Den Nachweis für die Existenz einer Seele mit Hilfsmitteln der dreidimensionalen Welt durchführen zu wollen, ist weder angebracht noch möglich. Der beste Radiologe wird im Schädel-MRT und der beste Pathologe im Mikroskop nicht fündig. Jeglicher Versuch, die Seele mit irdischen Messinstrumenten vermessen zu wollen, wird scheitern.«
»Wir haben die Maschine nicht konstruiert, um die Seele ausfindig zu machen«, intervenierte Maria.
Marquês nickte zustimmend. »So ist das in der Forschung. Man sucht den Hausschuh unter dem Sofa, und am Ende findet man versehentlich die Ehefrau.«
»Das ist nicht komisch«, fand Maria.
»Wie erwartet, könnt ihr mit all diesen Informationen nichts anfangen. Ihr könnt es nicht begreifen. Ihr müsst es schon selbst erleben, um es zu verstehen.«
Maria schüttelte den Kopf. »Mir wird schon übel, wenn ich die Achterbahn fahren sehe. Ich setze mich nicht hinein, wenn ich weiß, dass sie mir nicht bekommt.«
Marquês zuckte mit den Schultern. »Die Maschine der Erkenntnis macht aus einem Saulus einen Paulus. EVA ist die Erlöserin: Sie bringt uns Erleuchtung und den Frieden der Welt.«
Kaum hatte Marquês sein letztes Wort gesprochen, wurde der Raum vom Spezialeinsatzkommando gestürmt. Innerhalb von zwei Sekunden war das Forschungsteam von Marquês ausgelöscht. Die erleuchteten Tiere fanden ebenfalls den Tod. EVA wurde demontiert und an einem geheimen Ort tief unter der Erde neu aufgebaut.
Dr. med. Cordula Sachse-Seeboth, geb. 1977 in Mühlhausen in Thüringen, 1996 Abitur am Eichsfeld-Gymnasium in Duderstadt, Medizinstudium an den Universitäten in Magdeburg und Greifswald, 2004 Promotion, zwei Söhne. Ärztliche Tätigkeiten in den Fachgebieten Transfusionsmedizin, Mikrobiologie, Anatomie, Klinische Pharmakologie und Mitwirkung in mehreren klinischen Studien. Seit 2014 bin ich in der Inneren Medizin tätig, Zurzeit arbeite ich in einer Allgemeinarzt-Praxis.
Bereits in meiner Jugend habe ich Gedichte und Kurzgeschichten verfasst. Sowohl das kreative Schreiben als auch das Musizieren und Komponieren am Klavier sind für mich wesentliche Elemente im Leben. Sie haben befreiende, heilende und erholsame Wirkung. Außerdem beschäftige ich mich gern mit Enkaustik (https://rapidot.de/kunstgalerie/nggallery/thumbnails)
„Rapidot“ ist mein Debütroman. Ursprünglich plante ich eine Übersichtsarbeit über Betrug in Klinischen Studien. Ich entschied mich, den Weg der Belletristik einzuschlagen. Auf diese Weise erreicht meine Botschaft ein größeres Publikum. Literatur besitzt das Potential, die Medizinlandschaft ehrlicher und humaner zu gestalten. „Rapidot“ ist ein Anfang.
Falls ich Ihr Interesse geweckt habe, besuchen Sie meine Webseite www.rapidot.de, oder schreiben Sie mir eine E-Mail an rapidot@rapidot.de.