Heute, am 29. Juni 2021 spielt im Achtelfinale Deutschland gegen England im Wembley-Stadion in London.
Ich bin gespannt, wie das wird: Seit 1966 hat Deutschland gegen England nicht mehr verloren. Deutschland ist allerdings in der aktuellen Europameisterschaft nur mit sehr viel Glück ins Achtelfinale vorgerückt. Die Chancen für England stehen also gut.
Nach dem verlorenen Spiel von Wembley 1966 habe ich Sabine Nolting, die damals etwa acht Jahre alt war, eine Ohrfeige gegeben. Ich möchte mich heute, 55 Jahre später, dafür entschuldigen.
Ich hatte nämlich keine Probleme mit Sabine. Noltings wohnten 3 Häuser weiter in unserer Straße. Jochen Nolting war einer meiner Schulkameraden in der Grundschule, wir waren in der dritten Klasse.
Bis zum Abitur sind wir später zusammen zur Schule gegangen, dann haben wir uns aus den Augen verloren. Jochen kommt auch nicht zu unseren Klassentreffen. Zum Gymnasium bildeten wir zeitweise eine Fahrgemeinschaft, ich durfte in Noltings Mercedes mitfahren – mein Vater fuhr Opel Rekord. Jochens Vater hatte studiert.
Mein Vater hatte hohen Blutdruck und große Schweißflecken unter den Armen, als Deutschland gegen England spielte. Nach dem Spiel stand es 2 : 2.
Und dann kam die Nachspielzeit, die Verlängerung, als das sogenannte Wembley-Tor fiel. Wikipedia beschreibt das so:
Als Wembley-Tor wird im deutschen Fußball ein Lattentreffer bezeichnet, bei dem der Ball von der Unterkante der Torlatte nach unten springt und dabei die Torlinie möglicherweise nicht vollständig überschreitet und anschließend wieder ins Spielfeld springt. Nach derartigen Spielszenen ist es oft umstritten, ob der Ball im Tor war oder nicht. Ist der Ball nachweislich nicht im Tor, handelt es sich dabei um ein Phantomtor.
Im Speziellen ist damit das derartige Tor der englischen Fußballnationalmannschaft in der Verlängerung des Finales der Fußball-Weltmeisterschaft 1966 gegen Deutschland im Wembley-Stadiongemeint. Das Tor wurde gegeben, obwohl der Ball die Torlinie möglicherweise nicht vollständig überschritten hatte.
In der 101. Minute überwand Hurst den deutschen Torwart Hans Tilkowski mit einem Schuss aus kurzer Distanz. Der Ball prallte von der Unterkante der Latte auf den Boden auf und wurde dann von dem deutschen Verteidiger Wolfgang Weber übers Tor ins Toraus geköpft. Der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst entschied zunächst auf Eckball und erst nach Rücksprache mit dem sowjetischen Linienrichter Tofiq Bəhramov auf „Tor“.
Deutschland verlor am Ende 2 :4,
und nach dem Spiel trafen wir Kinder uns draußen auf der Straße. Es war der 30 Juni 1966.
Es war sonnig und warm.
Der zweite Weltkrieg war mehr als 20 Jahre vorbei, aber für meinen Vater war die Sache noch nicht erledigt, war Rußland immer noch der bolschewistische Feind im Osten.
„Der Russe“ hatte in Wembley dafür gesorgt, daß Deutschland gegen England verloren hatte. Als Sabine Nolting in diesem Kontext sagte, das sei Deutschland recht geschehen, habe ich ihr eine geknallt.
Aus Mitleid – mit meinem Vater.
Ich möchte mich heute dafür entschuldigen: Sabine kannte meinen Vater gar nicht, sie meinte vielleicht einfach, der Ball sei hinter der Linie gewesen.
Und vielleicht hatte sie sogar recht.
Und ich musste damals noch viel lernen.
Also: Sorry.
Und: Schön, dass wir heute den Videobeweis haben.
Jahrgang 1957, geboren in Braunschweig. Nach der Schulzeit habe ich in Kiel Medizin studiert und mich in Norddeutschland, insbesondere in Schleswig-Holstein, richtig verliebt. Norddeutschland bin ich treu geblieben – meine Facharztausbildungen habe ich in Lübeck absolviert, dann bin ich als Chef einer Chirurgischen Klinik nach Bremen gegangen. Seit über 15 Jahren lebe ich mit meiner Familie im kleinsten Bundesland. Wissenschaftlich habe ich über Lymphome gearbeitet und damit 1983 promoviert. Habilitiert habe ich mich 1991 in Lübeck über die Zertrümmerung von Gallensteinen. Seit 1996 Professor für Chirurgie. Ich arbeite hauptsächlich auf dem Gebiet der Gefäßmedizin und leite seit 2003 ein Gefäßzentrum an dem Klinikum Bremen-Nord
Neben wissenschaftlichen Publikationen schreibe ich kulturkritische Essays, Satire, Prosa, Geschichten über Norddeutschland, insbeson-dere über unsere nördlichste friesische Insel. Mehrmals habe ich mit Bremer Ärzten in der hiesigen Stadtbibliothek vorgetragen, schließlich ist die Medizin eines der Lieblingsmotive in der Literatur.
Warum ich schreibe? Am Grab von Kurt Tucholsky in Schweden steht eine Inschrift aus dem „Sudelbuch“, gestiftet vom Deutschen Bot-schafter in Schweden anlässlich des 75. Todestages des Publizisten und Satirikers: „Eine Treppe: Sprechen, Schreiben, Schweigen“.
Auch ich glaube an eine Hierarchie der Strukturiertheit des Denkens. Die unstrukturierteste Art des Denkens ist das Träumen. Hierbei geht alles durcheinander: Erlebtes, Erwünschtes, Geschehenes, Befürchtetes. Das Denken im Wachzustand ist demgegenüber realitätsbezogen, dennoch sprunghaft, situativ, reaktiv und den Eindrücken der Sinnesorgane folgend. Eine Hierarchiestufe höher steht das Sprechen. Sprechen erfordert eine Ordnung der Gedanken und eine Unterscheidung in Wichtiges und Unwichtiges. Gesprochenes kann aber nicht rückgängig gemacht werden. Gesagt ist gesagt.
Schreiben dagegen ermöglicht die Ordnung von Gedanken in weit hö-herem Maße: Sätze können umgestellt, verschachtelt, getrennt oder verbunden werden. Schwierige Gedanken können durch Bilder illus-triert werden, wichtige durch Fußnoten untermauert. Schreiben ist eine Investition.