Die Würde des Menschen ist unantastbar
Unser Grundgesetz ist gut. Es ist vorbildlich. Was der Parlamentarische Rat der noch nicht konstituierten Bundesrepublik erarbeitet hat, war neu, so kannte man die Wertschätzung des Individuums, der Freiheit, des Rechts eigentlich bisher nicht.
Der Artikel 1
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“
wird gerade landauf, landab, im Weserkurier und in den Kieler Nachrichten, seitenlang gefeiert.’Man meint zu erkennen, was die Herrschaften damals sagen wollten.
Es ist aber auch eine sehr diplomatische Formulierung.
Man kann das auch ganz anders verstehen.
Die Würde des Menschen ist nämlich durchaus antastbar.
Die Weisheit „Kleider machen Leute“ deutet schon darauf hin.
Mit guter Kleidung strahlt man Würde aus. Mit schlechter eben nicht.
Der Chefarzt im Eppendorfkittel mit Goldknöpfen, der Oberarzt mit (nur) Silberknöpfen, der Assistenzarzt im Kasack,
der Viersternegeneral und der Hauptfeldwebel, alle mit ihren hirarchiegerechten Sternchen und Rauten und Fähnchen und Anstecknadeln.
Der Häftling im Streifenanzug.
Bei der Einlieferung ins Konzentrationslager wurden den Insassen die Köpfe kahlgeschoren. Was hat das mit ihrer Würde gemacht?
Das wussten die Herren im Parlamentarischen Rat genau. Die hatten diese Zeit alle miterlebt.
Und doch haben sie diesen Satz formuliert.
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Wir wollen den Satz so stehen lassen. Es gibt ihn seit 70 Jahren. Jeder weiß, wie er gemeint ist.
Aber wir wollen daran denken, wie leicht die Würde des Menschen antastbar ist: Durch Prügelstrafe, Missachtung, Missbrauch, Mobbing.
Und wir wollen diesen Satz nie, und nie wieder, als Entschuldigung gelten lassen.
Heiner Wenk, Mai 2019
Jahrgang 1957, geboren in Braunschweig. Nach der Schulzeit habe ich in Kiel Medizin studiert und mich in Norddeutschland, insbesondere in Schleswig-Holstein, richtig verliebt. Norddeutschland bin ich treu geblieben – meine Facharztausbildungen habe ich in Lübeck absolviert, dann bin ich als Chef einer Chirurgischen Klinik nach Bremen gegangen. Seit über 15 Jahren lebe ich mit meiner Familie im kleinsten Bundesland. Wissenschaftlich habe ich über Lymphome gearbeitet und damit 1983 promoviert. Habilitiert habe ich mich 1991 in Lübeck über die Zertrümmerung von Gallensteinen. Seit 1996 Professor für Chirurgie. Ich arbeite hauptsächlich auf dem Gebiet der Gefäßmedizin und leite seit 2003 ein Gefäßzentrum an dem Klinikum Bremen-Nord
Neben wissenschaftlichen Publikationen schreibe ich kulturkritische Essays, Satire, Prosa, Geschichten über Norddeutschland, insbeson-dere über unsere nördlichste friesische Insel. Mehrmals habe ich mit Bremer Ärzten in der hiesigen Stadtbibliothek vorgetragen, schließlich ist die Medizin eines der Lieblingsmotive in der Literatur.
Warum ich schreibe? Am Grab von Kurt Tucholsky in Schweden steht eine Inschrift aus dem „Sudelbuch“, gestiftet vom Deutschen Bot-schafter in Schweden anlässlich des 75. Todestages des Publizisten und Satirikers: „Eine Treppe: Sprechen, Schreiben, Schweigen“.
Auch ich glaube an eine Hierarchie der Strukturiertheit des Denkens. Die unstrukturierteste Art des Denkens ist das Träumen. Hierbei geht alles durcheinander: Erlebtes, Erwünschtes, Geschehenes, Befürchtetes. Das Denken im Wachzustand ist demgegenüber realitätsbezogen, dennoch sprunghaft, situativ, reaktiv und den Eindrücken der Sinnesorgane folgend. Eine Hierarchiestufe höher steht das Sprechen. Sprechen erfordert eine Ordnung der Gedanken und eine Unterscheidung in Wichtiges und Unwichtiges. Gesprochenes kann aber nicht rückgängig gemacht werden. Gesagt ist gesagt.
Schreiben dagegen ermöglicht die Ordnung von Gedanken in weit hö-herem Maße: Sätze können umgestellt, verschachtelt, getrennt oder verbunden werden. Schwierige Gedanken können durch Bilder illus-triert werden, wichtige durch Fußnoten untermauert. Schreiben ist eine Investition.