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Ein Angriff aus der Vergangenheit (Dietrich Weller)

 

Heinrich Klarsen wurde im August 1890 auf einem kleinen Gehöft in Holstein geboren. Die Frau des Gutsbesitzers half Heinrichs Mutter Klara bei der Geburt. Klara Klarsen war ein paar Monate vorher als Magd auf den Hof gekommen, nachdem ihr Arbeitgeber in Hamburg, ein junger und wohlhabender Bankier, ihre Dienste als Hausangestellte zu sehr in Anspruch genommen hatte und Klara schwanger geworden war. Da der Schein der untadeligen Familienverhältnisse gewahrt werden musste, sorgte die Bankiersfrau für den Umzug der Schwangeren und einen Abbruch der Beziehungen.

Heinrich Klarsen wuchs in der dörflichen Gemeinschaft auf und musste immer wieder von seinen Kameraden spöttische Bemerkungen ertragen, da er keinen Vater habe. Seine Mutter erklärte ihm ebenso regelmäßig, der Vater sei schon vor Heinrichs Geburt bei einem Unfall gestorben. Heinrich war ein guter Schüler, besonders die naturwissenschaftlichen Fächer interessierten ihn sehr, sodass er im benachbarten Husum ins Gymnasium gehen durfte.

Nach dem Abitur zog Heinrich nach Hamburg, um sich dort eine Ausbildungsstelle zu suchen, da die Mutter kein Studium bezahlen konnte. Er fand eine Privatbank, in der er einen Ausbildungsvertrag zum Bankkaufmann erhielt. Als er diesen Vertrag seiner Mutter zur Unterschrift vorlegte, denn Heinrich war noch nicht volljährig, sah er überrascht, wie ihr Gesicht plötzlich rot wurde, als sie den Briefkopf und die Unterschrift unter dem Vertrag sah.

„Was ist mit dir?“, wollte er wissen. Sie drehte ihren Kopf weg und sagte nach einer kurzen Bedenkpause: „Ich freue mich sehr für dich, die Rosenzweig-Bank ist eine gute Bank!“

Heinrich Klarsen erlebte eine erfolgreiche Ausbildung. Rosenzweig erteilte ihm oft schwierige Aufträge, die Klarsen stets zuverlässig erledigte. Manchmal stellte Rosenzweig sogar private Fragen, auch zu Klarsens Mutter. Als er hörte, dass es ihr gut gehe und sie in der Nähe von Husum lebe, fragte Rosenzweig auch einmal nach Klarsens Vater. Der sei schon ganz jung bei einem Unfall verstorben, antwortete Klarsen und wunderte sich, warum Rosenzweig sich plötzlich hustend abwandte.

Da Klarsen wegen seiner Leistungen in der Bank bald einen guten Ruf besaß und seine Hilfsbereitschaft geschätzt wurde, gelang ihm der Aufstieg zum Abteilungsleiter. Er genoss das volle Vertrauen Rosenzweigs. Dieser erreichte sogar, dass Klarsen im 1. Weltkrieg wegen Unabkömmlichkeit nicht eingezogen wurde und weiter in der Bank arbeiten konnte.

Klarsen gründete mit der Tochter eines reichen Hamburger Kaufmanns eine Familie, die mit zwei gesunden Kindern beschenkt wurde. Er unterstützte seine Mutter großzügig, hatte einige ehrenamtliche Posten inne und war Mitglied des Stadtrats. Er schuf sich als Vizedirektor der Bank einen angesehenen Platz in der Gesellschaft. In der Bank überließ Rosenzweig ihm immer mehr Entscheidungen und zog sich langsam vom täglichen Geschäft zurück. Es wurde angesichts des guten Vertrauensverhältnisses der beiden Herrn allgemein erwartet, dass Klarsen beim Ausscheiden des alten Rosenzweig dessen Platz als Direktor einnimmt.

Als die braune Partei immer größer und mächtiger wurde, führte Heinrich Klarsen die Bank zielsicher parteikonform und machte sich bei den wichtigen Politikern unverzichtbar, indem er Gelder für Parteizwecke günstig zur Verfügung stellte und Politkonten gewinnbringend führte. Um seine Einstellung auch nach außen sichtbar zu machen, ließ er sich weiße Hemden mit braunem Rand am Kragen schneidern und trug eine Brille mit braunen Bügeln und brauner Glasumrandung. Zu allem Überfluss bevorzugte er braune Hüte und braune Anzüge in verschiedenen Schattierungen. Seine öffentlichen Reden waren linientreu und brillant, und man sprach an den Stammtischen darüber, er sei zu einem höheren Finanzposten bestimmt.

Im Stillen aber machte es Klarsen zu schaffen, dass Rosenzweig, nur weil er Jude war, von der Vision des ewigen braunen Reichs ausgeschlossen werden sollte. Klarsen konnte nicht verstehen und es widerstrebte ihm zutiefst, dass dieser sympathische Bankier, der ihn so wohlwollend gefördert hatte, ein Volksschädling sein sollte. Klarsen litt unter dem Konflikt, denn er hätte Rosenzweig angreifen und aus der Bank drängen müssen, wenn er nach den offiziellen politischen Regeln und seinen eigenen Reden gehandelt hätte. Denn der Führer forderte die Vertreibung der Juden und eine rücksichtslose Endreinigung des Volkes. Hitler überzeugte mit hetzenden Reden die Massen davon, dass Unterdrückung und Ausrottung der Gegner den eigenen Wert hebt und sichert. Klarsen wusste: Das Endziel fordert Opfer, auf Einzelschicksale kann keine Rücksicht genommen werden. Er behandelte Rosenzweig aber weiterhin mit Hochachtung und Dankbarkeit wie vor der braunen Ära. Und beide waren klug genug, politischen Diskussionen in der Bank aus dem Weg zu gehen.

Als die zunehmende antijüdische Hetze nicht mehr zu überspielen war, versammelte Rosenzweig an seinem 70. Geburtstag die Belegschaft der Bank in seinem Arbeitszimmer und hielt eine kleine Ansprache, in der er sein Leben als Bankier kurz zusammenfasste. Er endete mit dem Satz: „Da meine Frau und ich …“, da stockte seine Stimme, und er fuhr nach kurzem Schlucken fort, „leider keine Kinder haben, übereigne ich mein Lebenswerk voll Vertrauen an unseren verdienten langjährigen Mitarbeiter und Vizedirektor Heinrich Klarsen und wünsche ihm und uns, dass er auch in den kommenden Jahren dieses Haus erfolgreich führt, das ab jetzt den Namen Klarsen-Bank tragen wird.“ –

Im allgemeinen Beifall klangen die Sektgläser hell. Viele der Anwesenden wunderten sich über die kampflose Resignation des sonst so durchsetzungskräftigen Bankiers, andere schätzten ihn wegen der würdevollen Haltung, die er angesichts der hoffnungslosen Lage für Juden und für jüdische Bankiers im Besonderen bewahrte. Zur Erleichterung der Angestellten blieb die friedliche Fassade der Enteignung gewahrt, und Rosenzweig machte im Überschwang seiner Gefühle einen zaghaften Versuch, seinen Nachfolger zu umarmen. Dann verabschiedete sich Rosenzweig feierlich und in aller Ruhe von jedem einzelnen Angestellten, denen die Tränen in den Augen standen. Ab diesem Tag erschien er nicht mehr in der Bank.

Nach einigen Monaten erhielt Klarsen einen Anruf von Frau Rosenzweig, die er auch nach all den Jahren nicht kannte. Er hatte sie nie in der Bank gesehen, nie mit ihr gesprochen und immer gewürdigt, wie strikt sein Chef Geschäftliches von Privatem trennte. Klarsen war auch nie im Hause Rosenzweig eingeladen gewesen. Frau Rosenzweig sagte freundlich und kurz: „Herr Klarsen, mein Mann bittet Sie, so rasch wie möglich zu uns nach Hause zu kommen. Es geht ihm nicht gut.“

Heinrich Klarsen spürte die Dringlichkeit der Bitte wie einen Befehl und reagierte spontan: „Ich komme sofort!“ Er ließ den Chauffeur vorfahren und war nach wenigen Minuten an der Villa Rosenzweig. Frau Rosenzweig begrüßte ihn: „Es ist gut, dass ich Sie nach so vielen Jahren jetzt kennenlerne. Mein Mann möchte mit Ihnen reden!“ Sie führte Heinrich Klarsen ins Schlafzimmer. Dort saß Shlomo Rosenzweig blass im Sessel an einem kleinen Tisch, atmete schwer mit schmalen blauen Lippen und streckte Klarsen die knochige Hand zum Gruß hin. Klarsen erschrak, wie abgemagert Rosenzweig aussah. Aber er ließ sich nichts anmerken und grüßte zackig: „Heil Hitler!“ –

Shlomo Rosenzweig lächelte verzwungen und sagte leise: „Lassen Sie das hier in diesem Haus! Vergessen Sie einen Moment die Politik. Ich will mit Heinrich Klarsen reden, nicht mit dem braunen Politiker! Setzen Sie sich zu mir!“

Klarsen ließ sich in den Sessel sinken.

Rosenzweig schaute ihn ruhig an, dann sagte er: „Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.“ Nach einer Pause fuhr er fort: „Ich habe Lungenkrebs und nicht mehr lange zu leben. Ich will mein Leben aufräumen, und dazu gehört dieses Gespräch. Ist Ihnen in all den Jahren aufgefallen, dass ich Sie besonders geschätzt und gefördert habe?“

„Ja natürlich, dafür bin ich sehr dankbar.“ Klarsen lächelte seinen Mentor herzlich an, der weitersprach: „Das hat nicht nur etwas damit zu tun, dass Sie ein tüchtiger Bankier und in der Tiefe Ihres Herzens ein guter Mann sind! Es hat noch einen anderen Grund.“

Klarsen beugte sich überrascht vor: „Welchen?“

Rosenzweig holte tief Luft, und Klarsen sah Tränen in den Augen des alten Herrn. Mit brüchiger Stimme sagte Rosenzweig: „Heinrich, du bist mein Sohn!“

Der Widerspruch kam sofort und mit entschiedener Stimme: „Sie wissen, das kann gar nicht sein, mein Vater ist vor meiner Geburt gestorben!“

Rosenzweig bekräftigte sanft: „Doch, ich bin dein Vater. Und jetzt erzähle ich dir die Geschichte. Erst dann kann ich ruhig sterben!“ –

Klarsen sah, wie im Hintergrund Frau Rosenzweig leise eintrat, am Türrahmen stehen bleib und aufmerksam beobachtete, wie ihr Mann ruhig und gefasst, weil innerlich seit langem auf dieses Gespräch vorbereitet, seinem Sohn beichtete.

Rosenzweig schloss mit den Sätzen: „In all den Jahren hat meine Frau zu mir gehalten, weil sie mich wirklich liebt, und dafür bin ich ihr unendlich dankbar. Ich bin glücklich, dass du zu mir geführt wurdest und ich erleben durfte, wie mein Sohn zielstrebig seinen beruflichen Weg macht. Auch deshalb habe ich dir gern unsere Bank überlassen, nachdem ich alt bin und die antijüdische Polemik mir den Boden zum Leben entzieht. Ich weiß, dass du mein Lebenswerk gut weiterführst, wenn auch unter anderen Gesichtspunkten, als ich es bis jetzt getan habe. Ich habe nie über unsere Verwandtschaft gesprochen, weil ich dich nicht mit meiner Vergangenheit belasten wollte. Ich hoffe, Du kannst mir das verzeihen.“

Er machte eine Pause, um wieder ruhig durchzuatmen und seine Stimme fester werden zu lassen. Das Gespräch strengte ihn sehr an. Klarsen war so betroffen von dem Geständnis seines Vaters, dass er, der sonst so schlagfertige Diskussionsredner, noch kein Wort sagen konnte. Dann begann Rosenzweig noch einmal:

„Aber jetzt an meinem Lebensende und in der momentanen politischen Situation muss ich dir sagen, dass du Halbjude bist. Wie du das mit deinem politischen Engagement in Zukunft vereinbarst, musst du selbst klären. Du bist mit deiner Familie in großer Gefahr, wenn unsere Geschichte entdeckt wird.“

Rosenzweig legte seine bleiche, warme Hand auf Klarsens Hand: „Bitte schütze deine Familie und meine Enkel! Und grüße deine Mutter von mir. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie dich so gut erzogen hat. Ich verspreche dir, dass von uns beiden“, er deutete auf seine Frau und sich, „keiner etwas über deine Abstammung erfährt. Aber in meinem Herzen bleibst du mein Sohn!“

Rosenzweig breitete seine Arme aus. Klarsen hatte bewegungslos und stumm zugehört, aber jetzt löste er sich langsam aus seiner Starre, kniete vor den Sessel und nahm seinen Vater herzlich in die Arme. Nach einer sehr langen Weile lösten sich die beiden Männer von einander, und Rosenzweig sagte: „Ich bin sehr erschöpft, aber auch sehr froh, dass ich dir mein Geheimnis anvertrauen konnte, das jetzt auch deines ist. Bitte lass mich jetzt allein. Aber bitte komm bald wieder. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Du und deine Frau Erika und meine Enkel sind immer sehr herzlich hier willkommen. Shalom!“

Klarsen zuckte zusammen, denn Shalom hatte er noch nie aus dem Mund seines Vaters gehört, und gerade in dieser Situation spürte er das Wort Friede als sehr zwiespältig, so aufgewühlt fühlte er sich und so fremd klang diese Provokation aus jüdischem Mund in seinen Ohren, die nur Naziparolen gewohnt waren. Er beherrschte sich aber, schaute seinem Vater direkt in die Augen, nickte mit einem leisen „Alles Gute!“, lächelte wie in Trance im Vorbeigehen auch einen freundlichen Gruß zu Frau Rosenzweig und verließ nachdenklich das Haus.

Erst als er im anfahrenden Auto die Augen schloss und tief durchatmete, spürte er seinen rasenden Puls, und Fragen, Gedanken und Bilder explodierten in seinem Kopf: „Ich gehöre zu denen, die ich immer öffentlich verdammt habe! Wie bringe ich das Erika und den Kindern bei? Wie kann ich sie vor Nachstellungen schützen? Können sie das Geheimnis für sich behalten? Die Kinder sind in der Hitlerjugend völlig auf Linie gebracht, sie werden sich verplappern oder mich vielleicht sogar verraten! Soll ich es überhaupt erzählen? Ich muss es irgendwie erklären, wenn ich Konsequenzen ziehe, die sie betreffen. Auf jeden Fall muss Erika wissen, was Rosenzweig mir gestanden hat! Erika schätzt Rosenzweig als Bankier und Mensch, aber dass er mein Vater ist, ändert die Situation in der Familie total! Was geschieht, wenn ich das Geheimnis für mich behalte und auch Erika nichts sage? Kann ich das durchhalten mit allen Konsequenzen? Ich kann doch Erika so etwas Wichtiges nicht verschweigen! Aber wenn es uns doch vielleicht rettet?!“

Klarsen spürte das Hemd schweißnass an seinem Rücken kleben und wischte sich die feuchte Stirn ab.

„Was sagt Erikas Vater? Ich sehe und höre ihn schon toben! Ich kann meine Glaubwürdigkeit in der Partei nicht retten, wenn herauskommt, dass ich Halbjude bin! Ich muss alle meine Ämter niederlegen und werde mit Schimpf und Schande verjagt! Noch schlimmer: Was ist mit den Judentransporten, von denen immer wieder gemunkelt wird? Betrifft uns das auch? Wie kann ich unsere Leben retten? Wie kann ich unser Vermögen in Sicherheit bringen? Fliehen oder dableiben und kämpfen? Familie oder Partei? Kann ich weiter eine Beziehung zu meinem Vater pflegen? Wie lange lebt er noch? Sollen wir zu sechst gemeinsam fliehen? Geld hätte ich genug. Was mache ich mit Mutter? Sollen wir sie mitnehmen? Wohin sollen wir fliehen? Wie viel Zeit habe ich, um Pläne zu machen und unsere Rettung vorzubereiten?“

Er sah schon die Schlagzeilen und sein Bild in den Zeitungen: „Klarsen ist ein verlogener Halbjude!“, „Klarsen als Bastard entlarvt!“, „Bankier mit unterschlagenem Vermögen auf der Flucht!“, „Unverschämter jüdischer Komplott in der Klarsen–Bank!“

Kurz bevor Klarsen an der Bank ankam und völlig verwirrt war von dem Gedankengewitter in seinem Kopf, sagte er gefasst zum Fahrer: „Ich bin etwas durcheinander. Bitte bringen Sie mich an die Alster, wo ich möglichst niemandem begegne. Ich muss bei einem Spaziergang nachdenken und dann eine wichtige Entscheidung fällen!“

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte wurde beim BDSÄ-Jahreskongress 2013 in Münster vorgetragen zum Thema „Konflikt als Chance“.

 

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