Der Deutsche hat zwei sehr unterschiedliche Charakterseiten, die aber eigentümlicherweise zusammengehören. Einesteils neigt er zum unkontrollierten Herrenmenschen, der Weltkriege vom Zaun bricht und menschenmordende, perfektionierte Massenvernichtungssysteme ausklügelt und zulässt.
Zum anderen leidet er an einem gemischten Anbiederungs-Selbstaufgabe-Selbstverleugnungssyndrom, garniert mit erstaunlicher Klagfähigkeit und Selbstbemitleidsphasen.
Trost – wenn auch keine Absolution – können wir Deutsche bei einigen bemerkenswerten Menschen unserer Geschichte finden, die sich in bestimmten, charakterfordernden Situationen politisch und privat verweigerten und Widerstand geleistet haben. Diesen verdanken wir eine angemessene Form von Selbstachtung.
Zum Glück vergisst die internationale Kritik nicht deutsche Dichter, Denker, Musiker, Maler, Wissenschaftler, aber auch Sportler, deren Leben und Leistungen die Welt- und Kulturgeschichte wesentlich bereichert haben.
Ergo: wenn wir allen Völkern mit notwendigem Respekt begegnen, positive Lehren aus unserer wechselvollen Geschichte ziehen und auch normalen Umgang mit uns selbst pflegen, haben wir Deutsche keinen ersichtlichen Grund, uns nicht zu mögen.
Der Text stammt aus Kardach, Tropfenweise Medizin, Peter-Stein-Verlag, Weimar.
Copyright Dr. Siegbert Kardach
Dr. med. Siegbert Kardach wurde 1940 in Breslau
geboren. Schulzeit in Sömmerda, Thüringen. 1959
vorklinische Semester Humanmedizin an der Humboldt-
Universität Berlin. 1962 klinische Ausbildung
an der Medizinischen Akademie Erfurt. 1966
Facharztausbildung Innere Medizin in Erfurt. Ab
1970 ärztlicher Leiter für spezialisierte medizinische
Betreuung im Bezirk Erfurt und Internist an
der Poliklinik Süd. Von 1991 bis 2005 niedergelassener
Internist in Erfurt. Siegbert Kardach lebt in
Erfurt.
Siegbert Kardach ist Mitglied im Bundesverband der Deutschsprachigen
Schriftstellerärzte (BDSÄ) und veröffentlicht zum dritten Mal Texte in diesem
Almanach.
Veröffentlichungen in Tagespresse und Rundfunk. 1997 erschien die Aphorismensammlung
„Befunde und Diagnosen. Fehldiagnosen inbegriffen“. 2003
folgte der Aphorismenband „Befindlichkeitsstörungen“ und 2009 der Band
„Medizin tropfenweise“, der 2010 mit dem Prof. Horst-Joachim-Rheindorf-
Literaturpreis ausgezeichnet wurde.