Endlich ist mir jemand begegnet, dem ich meine Schuldgefühle anvertrauen kann. Ich dachte, ich könne nie darüber sprechen, der Schmerz sei einfach zu stark. Doch der Schmerz darüber, dass die Welt weiterhin Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert, inzwischen sogar Jahrtausende lang meinem Geliebten Unrecht tut, ist noch größer, noch unerträglicher geworden. Ich weiß nicht, was mich trösten könnte. Vielleicht die Töne seiner Leier, die wie erfrischender Regen niedertropfen und manchmal aufsteigen wie Nebel in der Morgensonne. Aber er spielt nicht mehr. Zumindest nicht für mich. Zumindest hör ich es nicht. Bleibt nur das Geständnis meiner Schuld. Vielleicht tröstet es mich. Etwas. Der Versuch ist die Mühe Wert.
Ich wurde gewaltsam geraubt, verschleppt ins Reich der Unterwelt. Weil ich keinen einzigen Granatapfelkern aß (schließlich kannte auch ich Persephones Geschichte) konnte ich weiterhin meiner Liebe treu bleiben, ich wurde kein Schatten unter den Schatten, der Herr der Unterwelt hatte nur bedingt Macht über mich. Aber in meine Welt zurückkehren konnte ich auch nicht.
Orpheus’ Musik drang nicht zu mir in die Tiefe, so konnte ich sie nicht hören, aber ich hörte, wie man sich von seiner Musik erzählte. Seit er seine Trauer um mich durch die Musik ausdrückte, war sie wohl noch beeindruckender geworden. Felsen, Bäume und Tiere weinten mit ihm (oder statt seiner?), sie folgten ihm wie einer Trauerprozession. Und dann fand er den Eingang in dieses Reich, man wehrte ihm den Zugang nicht. Wahrscheinlich war man begierig darauf, seine Musik hier zu hören. Sie wandelte sich. Seine Musik – seine Trauermusik, seine Klagelieder – wandelte sich in fröhliche Musik, zu der man sich bewegen musste, sich drehen, wiegen, hüpfen, springen. Alle Schatten begannen zu tanzen. Licht entströmte den Tönen, den Saiten, seinen Fingern und floss ins Dunkel, wie ein gerade entsprungener Quell. Da wurde mir erlaubt, ihm zu folgen. Eine Bedingung gab es… ich hörte sie und hatte sie gleich wieder vergessen, vor Glück, ihm folgen zu dürfen. Ich meine, wir sollten nicht miteinander reden und auf unserem Weg nach oben nicht innehalten.
Ich folgte ihm, was nicht leicht war, denn die Schatten legten sich wie Nebel zwischen uns auf den Weg, der ja keiner war, gerade entstanden unter Orpheus’ Tritten. Und im Dunkel schien er meinen Augen zu entschwinden. Ich eilte, denn ich wusste, wenn ich ihn nicht mehr sah, gab es für mich keinen Weg mehr, dann hätte der Gebieter der Unterwelt wieder Macht über mich. Vielleicht mehr als zuvor. Wieder und wieder entschwand Orpheus meinen Blicken, ganz klein war er schon durch die Entfernung geworden, Angst schnürte mir von neuem die Kehle zu, nahm mir die Luft zum Atmen, die ich gerade wieder zu spüren begann. Da rief ich seinen Namen: „Orpheuuus!“ und bittend fügte ich hinzu: „Warte auf mich“. Erschrocken blickte er sich um zu mir … im selben Moment waren wir unseren Blicken entschwunden, die Unterwelt hatte mich wieder.
Seit dem habe ich ihn nie mehr gesehen, nie mehr seine Musik gehört. Hätte er sich nicht mach mir umdrehen sollen? Aber ich musste ihn rufen …
Eurydikes Ruf, Eurydikes Klage… hören sie wir nicht manchmal ganz leise? In hellen Vollmondnächten? Im Dunkel des wolkenbedeckten Himmels? Im Schweifen der Nebel? In unserem eigenen Innern, wenn wir lieben und eine Ahnung vom ewigen Sein uns erfüllt?
Eurydikes Klage… verstummt sie jetzt, wenn wir von ihrer Schuld wissen? Wer kann ihr verzeihen denn Orpheus kann es nicht mehr. Oder… muss sie ihn wieder rufen, denn sie weiß so wenig wie wir, wo er ist.
Copyright Dr. Helga Thomas
Dieser Text wurde beim BDSÄ-Jahreskongress zum Thema „Kommen und Gehen“ vorgetragen
<h5>Dr. phil. Helga Thomas. Geboren
am 31. Januar 1943 in Berlin.
Ausbildung und Arbeit als Analytikerin, Psychotherapeutin.
1976 Diplom am C. G. Jung-Institut. Für meinen Beruf war
die Erkenntnissuche wichtig. Mit 15 entdeckte ich nach der
Flucht aus Ostberlin das Briefe- und Tagebuch-Schreiben,
und mit 18 Jahren kam der Durchbruch zur Lyrik, meiner
eigentlichen Domäne. Vor meiner Ausbildung am Jung-Institut hatte ich Slavistik
und Germanistik studiert, und zu diesem Zweck hatte
ich noch zur Zeit des eisernen Vorhangs ein Jahr in Sofia
studiert, um Material für meine Doktorarbeit zu sammeln.
Seit 2003 bin ich mindestens zweimal im Jahr für längere
Zeit in Sofia, um dort Analysen und Supervisionen,
Seminare und Vorträge durchzuführen. Es ist „stimmig“,
dass in Bulgarien ein Teil meiner Bücher jetzt erschienen
ist, die Lyrik zum Teil zweisprachig.
Ich empfinde meine beiden Kinder als das Zentrum meines Lebens,
auch wenn sie inzwischen erwachsen sind (Tochter, geboren
1978, Heilpädagogin, Sohn, geboren 1979, Mediziner),
und meine beiden Enkeltöchter Luisa, geboren 2007 und
Mathilda, geboren 2009. Immer ist ein Hund an meiner
Seite.
Mein ganzes Leben habe ich geschrieben, aber heute
weiß ich, dass 1994 durch das dichterische Aufarbeiten
eines Traumas eine Blockade meines Schaffens gelöst
wurde. Mein Beruf kommt also mir selbst zugute in meinem
dichterischen Schaffen, und mein dichterisches
Schaffen hilft mir in meinen Beruf.
Meine mir wichtigsten Bücher:
Emotionen. Gedichte, Tegra Verlag, Sursee 2000. – Dunkelblüten
– Lichtsamen. Gedichte, Verlag CH. Möllemann,
Borchen 2003. – Warte, bis die Seerose blüht, Roman,
Verlag CH. Möllemann, Borchen, 2006. – Halt inne. Blick in
eine andere Richtung. Gedichte, Sofia 2007. – Lausch auf
den Atem verborgenen Lebens. Gedichte für Nelly Sachs
und Paul Celan, Borchen 2007 (hierfür erhielt ich 2008 den
Horst Joachim Rheindorf-Preis des Bundes Deutscher
Schriftstellerärzte). – Geschichten (m)einer Kindheit. Erzählungen,
Sursee 2007. – Lichträume, Räume der Liebe
und des Lebens, bulgarisch-deutsch, Sofia 2008. Urformen,
bulgarisch-deutsch, Gedichte, Sofia 2009. – Gesicht
im Fenster, Gedichte, Wien 2011.
Die Bücher sind zu beziehen über: Dr. Helga Thomas, Hammerstr. 10, 79540 Lörrach, und beim Verlag.<7h5>