Ich fühle mich gesund, und ich kann alles tun, was ich immer gemacht habe.
Naja, ich bekomme schon mal eher etwas Luftnot, wenn ich zu schnell laufe. Und früher habe ich die Zähne gezählt, die mir so nach und nach ausfielen, heute zähle ich die, die noch meine eigenen sind.
Aber Pillen jeden Tag, nein, die muss ich nicht nehmen. Habe ich gedacht, bis mir eines Tages meine Krankenkasse schrieb, die gar keine Krankenkasse ist, sondern eine Gesundheitskasse.
Sie wollten wissen, ob ich denn schon zum Gesundheit-Check gewesen wäre. Na, ich kannte nur den Check von der Sparkasse. Dass das einen Check für die Gesundheit gab, wusste ich gar nicht. Ich habe dann angerufen bei der Gesundheitskasse und sie sagten, dass das alles in Ordnung wäre. Ich solle mir keine Gedanken machen, checken soll heißen, ich soll mich beim Arzt untersuchen lassen. Das hab ich dann meiner Edith zu erklären versucht und dass die Kasse und die Bank noch nicht fusioniert hätten, von wegen Check und so.
Nun ja, ich bin also hin zum Doktor. Er sagte gleich, dass er 15 Minuten Zeit für die Untersuchung hätte. Ich solle mich oben herum ausziehen und mich dann hinlegen.
Als ich fragte, ob ich die Schuhe ausziehen soll, rief er mit einem Grauen in der Stimme: „Nur das nicht!“
Beim Ausziehen stellte er mir Fragen.
Ob ich rauche. Nein, nur eine Zigarre in der Woche und mal eine Pfeife. Und wie viel ich trinke. So zwei Flaschen Bier am Abend, auch mal drei, wenn meine Edith eingeschlafen ist auf der Couch.
Ob ich genug Wasser trinke. Nein, das ist ja wohl für Pferde und Rinder. Ob ich mich nur mit meiner eigenen Frau befasse oder auch mit anderen? Ich fragte: „Die letzten zehn Jahre oder überhaupt?“ Der Doktor kratzte sich am Kopf: „Sagen wir mal die letzten zehn Jahre“. Da nickte ich.
Und er wollte wissen, ob ich genug Bewegung hätte und ob ich etwas für mein Denken täte. Da nickte ich auch.
Und ob ich beim Wasserlassen mehr als eine Minute brauchte, von wegen der Prostata. Ich nickte wieder.
Inzwischen hatte ich mich hingelegt. Der Doktor nahm die Taschenlampe und hielt sie mir vor das Gesicht. Ich machte den Mund auf und er sagte zu mir: „Komisch, ich will zuerst in die Augen leuchten, aber jeder reißt gleich den Mund auf“.
Dann wollte er wissen, wann ich das letzte Mal beim Augenarzt war, von wegen des Augendrucks. Ich war noch nie in meinem Leben beim Augenarzt. Aber einmal im Jahr soll man doch den Augendruck messen lassen. Na, er würde mir eine Überweisung geben. Das Messen müsste ich aber selbst bezahlen.
Dann guckte mir der Doktor in die Ohren. Das Trommelfell war nicht zu sehen vor lauter Schmalz. Das sollte ich mir beim HNO-Doktor raus machen lassen, dann könne ich auch wieder besser hören.
Nun war der Blutdruck an der Reihe und dann wurden Lunge und Herz abgehört. Beim Herzen guckte er so, fühlte meinen Puls, schrieb etwas auf, sagte aber nichts.
Danach griff er mir auf den Bauch und auf die Leber. „Die Leber ist etwas zu groß, wahrscheinlich zu fett. Ist ja auch kein Wunder bei dem Bier und dem Übergewicht. Ihr BMI ist 27.“
„Mein was?“
„Ach so, BMI, Body-Maß-Index, heißt soviel wie: Für ihr Gewicht sind Sie zu klein.“
Im Sitzen schlug er mir auf einmal mit der Faust in die Nieren. „Na, das hat wohl wehgetan, tja, das sind die Nieren. Das kriegt der Nephrologe raus, vielleicht auch der Urologe. Da müssen Sie sowieso hin, wegen der Prostata. Ich gebe Ihnen für jeden eine Überweisung, auch gleich für den Orthopäden.“
Dann konnte ich mich wieder anziehen und hinsetzen. So gründlich in so kurzer Zeit, dachte ich, hat mich ja noch nie im Leben jemand untersucht. Aber das wird daran liegen, dass ich nicht krank bin.
Der Doktor guckte mich an: „Das mit dem Übergewicht kriegen wir rasch in den Griff. Sie essen keinen Kuchen mehr, trinken ein Bier weniger und machen ein wenig Sport.“
Ich nickte und dachte, dass ich mich auf den Kuchen doch schon freue, wenn ich mich zum Mittagsschlaf hinlege.
Der Doktor: „Was mir Sorgen macht, ist der Herzschlag. Der Puls ist mit 90 in einer Minute zu hoch. Jeder Mensch hat nur eine bestimmte Anzahl Pulsschläge für sein Leben mitbekommen. Wenn die Schläge verbraucht sind, ist der Mensch tot. Wenn wir nun den Pulsschlag auf, sagen wir mal 80, herunterbekommen, können Sie vielleicht fünf Jahre länger leben als jetzt. Sie müssten also eine Pille nehmen, damit das Herz langsamer schlägt, aber vorher schicke ich sie noch zu einem Spezialisten, zum Kardiologen.“
Hm, dies war ja nun was. Ich soll eine Pille nehmen.
„Hat die denn auch Nebenwirkungen?“
„Meistens nicht. Aber es kann sein, dass Sie müde werden, jedenfalls mehr als sonst.“
„Das heißt, ich schlafe dann mehr?“
„Ja.“
„Dann lebe ich also länger, aber schlafe mehr? Dann habe ich ja gar nichts von dem längeren Leben?“
„Doch, Sie erleben doch länger etwas, wenn auch für kürzere Zeit. Denken Sie doch einmal darüber nach. Hier sind erstmal sechs Überweisungsscheine. Wenn Sie bei allen Ärzten gewesen sind, kommen Sie wieder her.“
Clever ist der Doktor, dachte ich. Schickt mich zu seinen Kollegen, damit ich überall die Extras bezahlen kann, und die schicken wieder Patienten zu ihm, damit sie die Akupunktur, die er macht, bei ihm bezahlen.
Ich stand auf und fragte: „Abgesehen von der Müdigkeit, haben die Pillen noch andere Nebenwirkungen?“
„Na ja, es kommt schon mal vor, dass die Potenz beeinträchtigt ist?“ „Und was mache ich dann?“
„Dann nehmen Sie ein Potenzmittel. Viagra oder etwas anderes.“ „Dreimal eine?“
„Um Gottes Willen. Nur eine Einzige und auch nur bei Bedarf.“
„Warum muss man denn damit so vorsichtig sein?“
„Weil man die überhaupt nur nehmen darf, wenn das Herz in Ordnung ist und der Pulsschlag nicht zu hoch!“
Als ich an diesem Tag nach Hause kam, fühlte ich mich irgendwie ein wenig krank. Ich ging in die Küche und trank erst einmal ein Bier. Dann aß ich das Stück Kuchen von nachmittags auf, steckte mir eine Pfeife an und holte den Eierlikör, den meine Frau so gerne trinkt, aus der Kammer. Danach goss ich mir einen Kognak ein und sagte zu meiner Edith: „Heute machen wir uns einen richtig schönen Abend.“ Und das haben wir auch getan.
Nachts habe ich dann geträumt, dass der Doktor mir mit den Akupunkturnadeln in die Prostata gestochen hat. Und meine Edith hielt dabei die Taschenlampe, während die Frau von der Gesundheitskasse einen Check für den Augenarzt ausschrieb, der meinen Kuchen aß.
Und ich habe die dreieckige Pille, ganz blau war sie, in den Eierlikör geworfen, der dann grün geworden ist. Mein Puls war auf sechzig Schläge pro Minute herunter, und ich war so müde, dass ich länger schlief als ich gelebt habe.
Jürgen Rogge, Dr. sc. med., geb.
1940 im Altkreis Hagenow/Mecklenburg,
Abitur in Ludwigslust, Medizinstudium
an der Humboldt-Universität
zu Berlin, Facharztausbildung Neurologie/
Psychiatrie in Berlin, 1970
Promotion A, 1988 Promotion B (Habilitation),
tätig in Wismar, Leipzig
und von 1991 bis 2005 in eigener
Niederlassung in Perleberg. Jetzt ambulant tätiger Gutachter.
Verheiratet, drei Kinder. Neben Veröffentlichungen
(2010 „Das Narrenflugzeug“) in hochdeutscher Sprache
auch Herausgabe von Büchern in Plattdeutsch („Geschichten
ut Kauhstörp“, „Brägenjogging“).