Im Düngel
Früher, als Kind, musste ich samstags in die Badewanne. „Fichtennadel“ war der bevorzugte Badezusatz. Das sind Geruchswahrnehmungen, die sich ganz tief ins Langzeitgedächtnis eingraben.
Ein zweites Nadelholz weckt bei mir noch angenehmere Assoziationen: Die Kiefer. Auch Föhre genannt, wie sympathisch: Sylt, Amrum, Föhr: Das passt.
Der Duft der Kiefer, der Föhre erinnert mich an schönste Kindheitstage, wenn wir in den „großen Ferien“ unsere Großtante Trude in Barsinghausen am Deister besuchen durften: Durch den Kiefernwald laufen bis zum Schwimmbad der Sportschule des Niedersächsischen Fußballverbandes, baden, Staudämme bauen im Wald, Lagerfeuer machen und sich ewige Freundschaft beim Gotte Manitu schwören.
Genau diesen Geruch habe ich im Düngel wiederentdeckt.
Der Düngel: Ein Wald, ein Staatsforst zwischen Meyenburg, Lehnstedt und Garlstedt: Kennt man doch, oder?
Da, wo in Meyenburg der Brandberg in den Bollmannberg übergeht, ist der Waldrand. Auf dem Seedorfer Weg geht es in den Kiefernwald, als erstes sieht man ein Erholungsheim der evangelischen Kirche, dann ein paar Ferienhäuser, und dann ist man alleine und mittendrin im Wald – so viele Pflanzen und Bäume, Gerüche, viel zu viele Mücken, und dann steht die Rute meines Hundes, und drei Meter vor uns flüchtet ein Reh, das mir in der Reizüberflutung komplett entgangen war, Jette aber nicht.
Ich reihe mich ein in die große Zahl derer, die sich hier wohlfühlen, für die der Wald Rückzugs- und Regenerationsraum ist.
Schon lange ist diese Gegend besiedelt.
Hünengräber, hier Megalithengräber genannt, legen seit 5000 Jahren Zeugnis darüber ab. Eine andere Ruhestätte berührt mich besonders: Es ist eine Kriegsgräberstätte für serbische Soldaten, die hier im ersten Weltkrieg umgekommen sind. Das ist ein wohltuendes Pendant zu den Soldatengedenksteinen auf unseren Friedhöfen, die noch heute den Krieg verherrlichen, von einem „guten Kampf“ sprechen, den der Soldat gekämpft, bevor er „seinen Lauf“ vollendet hat.
Und nun beende ich meinen Lauf mit dem Hund und steige aufs Rad. Über die Autobahn, die den Düngel durchquert, fahren wir zu den Heidhofer Teichen. Hier findet sich eine naturbelassene Moorlandschaft, unter den Bäumen dominieren Eichen und Birken.
Wir tanken auf im Wald.
Sauerstoff, Ruhe, Gerüche von Kiefern, Pilzen, Farnen und Blumen nehme ich mit nach Hause.
Der Wald ist Schauplatz vieler Mythen. In der Literatur ist er mal idyllischer Schauplatz, mal Ort von Horrorszenarien. Das geht bis in die Kinderbücher hinein: Wegen Ronja Räubertochter mussten wir mehrfach Urlaub in Schweden machen. Weil nicht nur für mich, sondern auch für meine Kinder der Wald ein besonders schöner und geheimnisvoller Ort ist.
Sooft es geht, bin ich mit Jette im Dügel. Irgendwann treffe ich sie, die Kobolde, Waldgeister oder die Wildruden von Astrid Lindgren. Jette spürt sie auf.
Jahrgang 1957, geboren in Braunschweig. Nach der Schulzeit habe ich in Kiel Medizin studiert und mich in Norddeutschland, insbesondere in Schleswig-Holstein, richtig verliebt. Norddeutschland bin ich treu geblieben – meine Facharztausbildungen habe ich in Lübeck absolviert, dann bin ich als Chef einer Chirurgischen Klinik nach Bremen gegangen. Seit über 15 Jahren lebe ich mit meiner Familie im kleinsten Bundesland. Wissenschaftlich habe ich über Lymphome gearbeitet und damit 1983 promoviert. Habilitiert habe ich mich 1991 in Lübeck über die Zertrümmerung von Gallensteinen. Seit 1996 Professor für Chirurgie. Ich arbeite hauptsächlich auf dem Gebiet der Gefäßmedizin und leite seit 2003 ein Gefäßzentrum an dem Klinikum Bremen-Nord
Neben wissenschaftlichen Publikationen schreibe ich kulturkritische Essays, Satire, Prosa, Geschichten über Norddeutschland, insbeson-dere über unsere nördlichste friesische Insel. Mehrmals habe ich mit Bremer Ärzten in der hiesigen Stadtbibliothek vorgetragen, schließlich ist die Medizin eines der Lieblingsmotive in der Literatur.
Warum ich schreibe? Am Grab von Kurt Tucholsky in Schweden steht eine Inschrift aus dem „Sudelbuch“, gestiftet vom Deutschen Bot-schafter in Schweden anlässlich des 75. Todestages des Publizisten und Satirikers: „Eine Treppe: Sprechen, Schreiben, Schweigen“.
Auch ich glaube an eine Hierarchie der Strukturiertheit des Denkens. Die unstrukturierteste Art des Denkens ist das Träumen. Hierbei geht alles durcheinander: Erlebtes, Erwünschtes, Geschehenes, Befürchtetes. Das Denken im Wachzustand ist demgegenüber realitätsbezogen, dennoch sprunghaft, situativ, reaktiv und den Eindrücken der Sinnesorgane folgend. Eine Hierarchiestufe höher steht das Sprechen. Sprechen erfordert eine Ordnung der Gedanken und eine Unterscheidung in Wichtiges und Unwichtiges. Gesprochenes kann aber nicht rückgängig gemacht werden. Gesagt ist gesagt.
Schreiben dagegen ermöglicht die Ordnung von Gedanken in weit hö-herem Maße: Sätze können umgestellt, verschachtelt, getrennt oder verbunden werden. Schwierige Gedanken können durch Bilder illus-triert werden, wichtige durch Fußnoten untermauert. Schreiben ist eine Investition.