Beitrag zur Lesung „Was wäre wenn…?“ beim BDSÄ-Kongress in Bad Herrenalb 2019
In der zwölften Klasse kam mein Deutsch-Lehrer, Herr Bernien, gleich in der ersten Stunde zu uns. Deutsch war aber erst in der zweiten Stunde vorgesehen. Herr Bernien sagte uns, er habe sich die erste Stunde schenken lassen. Wir sollten einen Aufsatz schreiben. Gleich in Reinschrift. Das Thema schrieb er an die Tafel: „Was wäre, wenn…“
Viel später erfuhren wir, dass es im Lehrerzimmer die Debatte gab, dass die Schüler von heute keine Phantasie mehr hätten. Es sei heftig gestritten worden. Nur wenige Lehrer, darunter Herr Bernien, schätzten ein, dass jedenfalls die 12 A, also wir, Phantasie hätte. Herr Bernien würde wetten wollen, dass das so sei. Und die Lehrer schlossen tatsächlich eine Wette ab. Und Herr Bernien beantragte auch noch die erste Stunde, die ihm dann abgetreten wurde. Ja, und Herr Bernien gewann die Wette.
Ich schrieb zum Thema, was wohl wäre, wenn ich zaubern könnte. Dann würde ich alles, was ich lerne, sofort verstehen und behalten. Dann würde ich nach dem Abitur eine Weltreise machen. Ich würde fliegen können und die Erde umkreisen. Als ich über den Nordpol flog, sah ich Eisberge, wovon einer die Form von Anita Eckberg hatte, einer Schönen meiner Jugendzeit. Man durfte sie nur nicht anfassen, denn dann würde sie schmelzen.
Herr Bernien lobte mich wegen meiner „köstlichen Phantasie“, las den ganzen Aufsatz der Klasse vor und betonte besonders die Passage mit Anita Eckberg. Ich sah ihm an, dass er die Dame auch gerne gestreichelt hätte. Aber so konnte er sich die Tiefe ihrer blassblauen Augen nur ausmalen. Und mir fiel auf, dass er sich beim Lesen die Lippen leckte.
Tja, Lehrer sind eben auch nur Menschen.
Jürgen Rogge, Dr. sc. med., geb.
1940 im Altkreis Hagenow/Mecklenburg,
Abitur in Ludwigslust, Medizinstudium
an der Humboldt-Universität
zu Berlin, Facharztausbildung Neurologie/
Psychiatrie in Berlin, 1970
Promotion A, 1988 Promotion B (Habilitation),
tätig in Wismar, Leipzig
und von 1991 bis 2005 in eigener
Niederlassung in Perleberg. Jetzt ambulant tätiger Gutachter.
Verheiratet, drei Kinder. Neben Veröffentlichungen
(2010 „Das Narrenflugzeug“) in hochdeutscher Sprache
auch Herausgabe von Büchern in Plattdeutsch („Geschichten
ut Kauhstörp“, „Brägenjogging“).