1.
Wohin man sich auch wendet, man trifft immer wieder auf Lehrer. Es gibt kein Entrinnen.
Meine ersten Lehrer waren Frau Barth und Herr Möller in einem kleinen Dorf nahe einer kleinen Kreisstadt. Wir schrieben das Jahr 1947. Sie unterrichteten die erste und zweite Klasse in einem Raum, insgesamt wohl etwa 60 Schüler. Wenn sie der ersten Klasse etwas beibrachten, beschäftigten sie die zweite Klasse zum Beispiel mit Schreiben. Und umgekehrt. Die guten Schüler der ersten Klasse beherrschten dann am Ende des Schuljahres auch den Lehrstoff der zweiten Klasse. Und die guten Schüler der zweiten Klasse langweilten sich, weil sie ja schon alles wussten.
Frau Barth war alleinstehend. War ihr Mann im Krieg geblieben? Ab und zu kaufte sie bei meiner Großmutter Eier. Solche Beziehungen, sagte meine Mutter, würden mir nur nutzen können.
Herr Möller hatte im Krieg ein Bein verloren. Nun hatte er ein Holzbein als Ersatz, womit er humpelte. Er hat uns das Holzbein nie gezeigt. Dabei waren wir doch neugierig, wie so etwas funktioniert.
2.
Frau Barth war eine kluge Frau. Als sie einmal zum Eierholen kam, fragte sie mich, ob ich denn wüsste, was mein Name, Rogge, eigentlich bedeutet. Na ich konnte es mir denken:
„Das kommt von Roggen, dem Korn, das bei uns wächst”.
„Ja”, erklärte sie mir, “da hast du recht. Weißt du denn auch, dass man die ersten Roggenehren, die man im Sommer sieht, durch den Mund ziehen soll? Das hilft gegen Fieber.”
Ich wusste das nicht, aber ich fragte: “Haben Sie schon einmal den Roggenfuchs und den Roggenwolf gesehen?”
Frau Barth verneinte.
“Der Roggenfuchs sitzt in der letzten Garbe und der Roggenwolf ist das Tier, das man in den Wellen des wogenden Korns sehen kann.”
“Woher weißt du das denn”.
“Von meiner Oma. Sie hat es mir bei der letzten Roggenernte erzählt”.
“Ein kluger Junge”, sagte Frau Barth zu meiner Mutter.
“Ja”, antwortete diese.
Und ich musste an den ersten Schultag denken, als meine Mutter gesagt hatte: “Wie komme ich nur zu diesem Kind!”
Wir sollten auf der Schiefertafel Kreise zeichnen, was mir nicht so gelang, wie ich einen Kreis kannte, nämlich rund.
3.
In späteren Jahren habe ich nachgelesen, dass man Hexen dann erkennen kann, wenn man drei heile Roggenkörner in einem Brot findet. Das ist mir nie gelungen.
Und dass man eine Warze mit drei Roggenähren bestreichen soll, habe ich auch nicht gewusst. Diese hängt man dann in den Schornstein. Dann würde die Warze weggehen. Dieses Verfahren praktizierte ich mit Erfolg.
Und meine Oma legte drei Roggenähren unter das Butterfass. Das half gegen Verhexung.
Unsere Butter schmeckte immer besonders gut.
Und meine Tante Marie erzählte, dass eine junge Frau eine doppelte Roggenehre nicht pflücken soll, sonst bekommt sie Zwillinge. Das habe ich Brigitte erzählt, meiner Freundin in der ersten und zweiten Klasse.
Sie wollte aufpassen.
4.
Nachdem Frau Barth mir klar gemacht hatte, dass alle Namen eine Bedeutung haben, fragte ich sie, was denn ihr Name, also Barth, bedeutete. Hatte das was mit dem Bart der Männer zu tun?
“Ja”, berichtete sie. “Der Bart der Männer gehört zu ihnen wie der Schwanz zum Hund. Er ist in seinen verschiedenen Formen Schmuck, Nistplatz, Speisekammer und Tarnung. Manche Männer bringen sich hinter ihm in Deckung. Ein langer Kinnbart ist ein Zeichen von Alter und Lebenserfahrung. So heißt es denn auch: Der muss etwas wissen; dessen Bart ist durch einen steinernen Tisch gewachsen. Und von sinnlos Betrunkenen sagt man: Der kann nicht mehr über den Bart spucken. Wenn man jemandem schmeichelt, geht man ihm um den Bart.”
“Aber warum haben Frauen keinen Bart?”
“Weil sie den Mund nicht so lange still halten können, wie das Beschneiden des Bartes dauert. Ein Mann, der ein Mädchen zum Kuss auffordert, kann schon mal sagen: Mädchen, komm und jag mir die Flöhe aus dem Bart. Und wenn ein Mann bartlos ist, heißt es: Der hat einen Bart wie ein nacktes Gössel.”
Ich dachte an Brigitte und fragte: “Kratzt oder sticht denn so ein Bart nicht, wenn man sich einen Kuss gibt?”
Frau Bart lachte: “Wenn der Kuss nicht schmeckt nach Priem und Bart, hat die ganze Küsserei keine Art.”
Ich fragte weiter: “Kann man am Bart denn sehen, ob jemand klug oder dumm ist?”
Frau Bart: “Auch den Dummen wächst der Bart. Sonst würde man sie gleich erkennen.”
“Eine Frage habe ich noch”, sagte ich. “Es gibt doch aber Männer, die keinen Bart haben, wie kommt denn das?
Die Antwort von Frau Bart war: “Wenn ein Junge mit dem selben Taufwasser getauft wurde, wie vor ihm ein Mädchen, bekommt er keinen Bart.”
Das habe ich Brigitte weiter gesagt.
5.
“ Wenn alle Namen eine Bedeutung haben”, sagte ich, “dann bedeutet der Name von unserem Lehrer Möller, dass es sich um einen Müller handelt.
“Ja”, antwortete Frau Barth, “das besprechen wir beim nächsten Mal, ich muss noch den Unterricht vorbereiten”. Komisch, erst erzählt sie lang und breit, und dann hat sie plötzlich keine Zeit.
Ich wollte aber doch mehr wissen zum Namen von Herrn Möller.
So fragte ich erst meine Mutter und dann meine Oma, aber die hatten auch keine Zeit. Also ging ich zu meiner Tante Marie, sie wohnte gegenüber von der Schule.
“Tja”, sagte sie, “die Müller gelten, natürlich nicht alle und nicht der aus unserem Dorf, als unehrlich. Sie werden Mehldiebe genannt.”
“Aber warum?”
Da gibt es verschiedene Ansichten. Es heißt zum Beispiel, dass der Müller von der Katze die Milch aufgesogen hat. Dadurch hat er das Mausen gelernt.”
Und plötzlich lachte Tante Marie. “Weißt du, warum der Storch nicht auf der Mühle baut? Weil er Angst hat, dass der Müller ihm die Eier stiehlt.”
“Da hat Herr Möller aber keinen schönen Namen”, erklärte ich.
“Es kommt nicht auf den Namen an”, sagte Tante Marie, “sondern auf den Menschen, der ihn trägt. Ich meine, ob er ein guter oder ein böser Mensch ist. Dein Lehrer hat ein gutes Herz. Er hat im Krieg ein Bein verloren und beklagt sich nicht. Er zeigt euch, dass man trotz Schwachstellen Gutes vollbringen kann.
Und: Lehrer sind auch nur Menschen”.
Jürgen Rogge, Dr. sc. med., geb.
1940 im Altkreis Hagenow/Mecklenburg,
Abitur in Ludwigslust, Medizinstudium
an der Humboldt-Universität
zu Berlin, Facharztausbildung Neurologie/
Psychiatrie in Berlin, 1970
Promotion A, 1988 Promotion B (Habilitation),
tätig in Wismar, Leipzig
und von 1991 bis 2005 in eigener
Niederlassung in Perleberg. Jetzt ambulant tätiger Gutachter.
Verheiratet, drei Kinder. Neben Veröffentlichungen
(2010 „Das Narrenflugzeug“) in hochdeutscher Sprache
auch Herausgabe von Büchern in Plattdeutsch („Geschichten
ut Kauhstörp“, „Brägenjogging“).