zum Weltkrebstag 2019
Theodor Storm und der Magenkrebs
Theodor Storm war –wie viele von uns – bekennender Norddeutscher:
„hin gen Norden zieht die Möwe,
hin gen Norden zieht mein Herz;
fliegen beide aus mitsammen,
fliegen beide heimatwärts.
Ruhig, Herz! Du bist zur Stelle;
flogst gar rasch die weite Bahn-
und die Möwe schwebt noch rudernd
überm weiten Ozean.“
1817 wurde Theodor Storm in Husum geboren. Also in die Zeit der Aufklärung, Goethe war da schon 20 Jahre alt.
Studiert hat er –wie ich- in Kiel.
1843 wurde er Rechtsanwalt in Husum, 1853 Gerichtsassessor in Potsdam, später Richter in Heiligenstadt in Thüringen. 1864 kehrte er nach Norddeutschland zurück und wurde Landvogt und Amtsrichter in Husum. 1880 setzte er sich zur Ruhe und zog zu seinem jüngeren Bruder nach Hademarschen. 1888 starb er an Magenkrebs und wurde auf dem St. Jürgen Friedhof in Husum bestattet.
Kurz vor seinem Tod konnte Theodor Storm, der schon mit 15 zu schreiben begonnen hatte, noch seinen „Schimmelreiter“ vollenden. Das war ein wichtiges Buch in der Zeit des bürgerlichen Realismus. Noch heute legt der Hauke Haien Koog zwischen Dagebüll und Reußenköge am Nordseestrand in Nordfriesland Zeugnis von den Schwierigkeiten der damaligen Zeit ab.
Theodor Storm hatte Magenkrebs.
Das war damals häufiger als heute.
Wir wissen, woran das lag: Der erste europäische Kühlschrank wurde 1929 von den durch Jørgen Skafte Rasmussen gegründeten Zschopauer Motorenwerken gebaut. Bei Storms zu Hause gab es also noch keinen Kühlschrank. Lebensmittel mussten geräuchert, gepökelt oder getrocknet werden, um sie haltbar zu machen.
Räuchern oder Pökeln führt aber dazu, dass wir mit der Nahrung krebserregende Substanzen, „Karzinogene“ aufnehmen, die beim Essen direkt im Magen landen. Aus dem Nitritpökelsalz entstehen im Magen Nitrosamine, und die sind für die Krebsentstehung sehr gefährlich.
Erst mit der flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung mit Kühlschränken nach dem zweiten Weltkrieg, im Wirtschaftswunder, wurde dem Magenkrebs die wichtigste Entstehungsgrundlage entzogen.
Man konnte Magenkrebs damals auch noch gar nicht operieren: Erst 1881 gelang Theodor Billroth –ebenfalls einem Norddeutschen, auf Rügen geboren- die erste Magenresektion. Bestrahlung, Chemotherapie: Das waren alles Zukunftsvisionen.
Man konnte noch nicht mal ein Röntgenbild machen: Erst 1895 entdeckte Wilhelm Conrad Röntgen die X-Strahlen, mit denen man das machen konnte, was wir heute „röntgen“ nennen. Er erhielt dafür 1901 den Nobelpreis.
Die Magenspiegelung steckte noch in den Kinderschuhen: 1868 schob Kußmaul einem Schwertschlucker eine starre Röhre in den Magen und vollführte damit die erste Magenspiegelung. Bis zum flexiblen „Gastroskop“ war es noch ein weiter Weg.
Theodor Storm hat seinen Magenkrebs dennoch diagnostizieren können.
Er konnte nicht in sich hineinsehen, da Endoskopie und Röntgen nicht zur Verfügung standen. Er konnte aber in sich hineinhorchen, hineinfühlen.
Er hatte „Einfühlungsvermögen“.
Und:
Er war ein exzellenter „Beschreiber“.
Das wünschen wir uns heute, wenn wir eine Magenspiegelung machen lassen: Dass der Untersucher den Befund auch entsprechend und verständlich beschreibt, und sich nicht auf die Verwendung von Textbausteinen beschränkt.
Theodor Storm tat mehr als das: Er beschrieb die Symptome seiner Magenkrebserkrankung sehr treffend in einem Gedicht:
Beginn des Endes
Ein Punkt nur ist es, kaum ein Schmerz,
Nur ein Gefühl, empfunden eben;
Und dennoch spricht es stets darein,
Und dennoch stört es dich zu leben.
Wenn du es andern klagen willst,
So kannst du’s nicht in Worte fassen.
Du sagst dir selber: »Es ist nichts!«
Und dennoch will es dich nicht lassen.
So seltsam fremd wird dir die Welt,
Und leis verläßt dich alles Hoffen,
Bist du es endlich, endlich weißt,
Daß dich des Todes Pfeil getroffen.
Theodor Storm hatte keine Schmerzen. Schmerz ist häufig ein entscheidendes Anzeichen einer Erkrankung, ein Warnsignal. Beim Magenkrebs versagt dieses Signalelement häufig, was das Erkennen dieser Erkrankung so erschwert.
Für Theodor Storm war die Diagnose Magenkrebs ein Todesurteil.
Das ist heute anders: Wir haben viele verschiedene Therapiemöglichkeiten und können diesen Krebs behandeln: Operation, Chemotherapie, manchmal auch Bestrahlung, Antikörperbehandlung und zielgerichtete Therapie können helfen.
Theodor Storm war das nicht vergönnt.
Er nahm es gelassen, er war ein gelassener Mensch:
„Es kommt das Leid,
es geht die Freud,
es kommt die Freud,
da geht das Leid-
die Tage sind nimmer dieselben.“
Heiner Wenk, Januar 2019
Jahrgang 1957, geboren in Braunschweig. Nach der Schulzeit habe ich in Kiel Medizin studiert und mich in Norddeutschland, insbesondere in Schleswig-Holstein, richtig verliebt. Norddeutschland bin ich treu geblieben – meine Facharztausbildungen habe ich in Lübeck absolviert, dann bin ich als Chef einer Chirurgischen Klinik nach Bremen gegangen. Seit über 15 Jahren lebe ich mit meiner Familie im kleinsten Bundesland. Wissenschaftlich habe ich über Lymphome gearbeitet und damit 1983 promoviert. Habilitiert habe ich mich 1991 in Lübeck über die Zertrümmerung von Gallensteinen. Seit 1996 Professor für Chirurgie. Ich arbeite hauptsächlich auf dem Gebiet der Gefäßmedizin und leite seit 2003 ein Gefäßzentrum an dem Klinikum Bremen-Nord
Neben wissenschaftlichen Publikationen schreibe ich kulturkritische Essays, Satire, Prosa, Geschichten über Norddeutschland, insbeson-dere über unsere nördlichste friesische Insel. Mehrmals habe ich mit Bremer Ärzten in der hiesigen Stadtbibliothek vorgetragen, schließlich ist die Medizin eines der Lieblingsmotive in der Literatur.
Warum ich schreibe? Am Grab von Kurt Tucholsky in Schweden steht eine Inschrift aus dem „Sudelbuch“, gestiftet vom Deutschen Bot-schafter in Schweden anlässlich des 75. Todestages des Publizisten und Satirikers: „Eine Treppe: Sprechen, Schreiben, Schweigen“.
Auch ich glaube an eine Hierarchie der Strukturiertheit des Denkens. Die unstrukturierteste Art des Denkens ist das Träumen. Hierbei geht alles durcheinander: Erlebtes, Erwünschtes, Geschehenes, Befürchtetes. Das Denken im Wachzustand ist demgegenüber realitätsbezogen, dennoch sprunghaft, situativ, reaktiv und den Eindrücken der Sinnesorgane folgend. Eine Hierarchiestufe höher steht das Sprechen. Sprechen erfordert eine Ordnung der Gedanken und eine Unterscheidung in Wichtiges und Unwichtiges. Gesprochenes kann aber nicht rückgängig gemacht werden. Gesagt ist gesagt.
Schreiben dagegen ermöglicht die Ordnung von Gedanken in weit hö-herem Maße: Sätze können umgestellt, verschachtelt, getrennt oder verbunden werden. Schwierige Gedanken können durch Bilder illus-triert werden, wichtige durch Fußnoten untermauert. Schreiben ist eine Investition.