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Was prägt uns? (Harald Rauchfuß)

 

Die Verhaltensforschung bezeichnet mit „Prägung“ ein angeeignetes Verhalten, das nicht zu ändern ist. Während eines frühen, für Prägungen sensiblen Lebensabschnitts werden eng begrenzte Verhaltensweisen dauerhaft ins Repertoire aufgenommen, als ob sie mit dem Instinktgefüge angeboren wären.

Ein typischer Schlüsselreiz ist die plötzliche Bewegung in der Nähe eines geprägten Tiers, z.B. einer Wildgans. Kinder haben Spaß daran, sich langsam einem dahin watschelnden Schwarm von Wildgänsen zu nähern und plötzlich heftig mit den Armen zu rudern. Die erste Gans rennt los und fliegt auf, ein Klatschen, Schnattern und rudernde Arme lassen die nächste und übernächste Gans auffliegen, deren Flügelschlag den ganzen Schwarm nachzieht.

Kinder wissen, dass sich das Experiment wiederholen lässt. Denn ungezählte Generationen Wildgänse lernen, dass man damit einer bedrohlichen Situation entkommt. Prägen Wildgans-Eltern indirekt auch Menschenkinder?

Nimmt man Prägung bei Menschen an, wenn sie in Stress geraten und weglaufen, weil die Urahnen wegrannten, um dem Stress mit einem Bären zu entkommen, würde Heraklit, ein vorsokratischer Philosoph, Recht behalten, dass Mensch-Sein eine leere Vorstellung sei. Aristoteles entwickelt im 4. Jahrhundert v. Chr. mit der Nikomachischen Ethik ein modern anmutendes Charakterkonzept. Die Kultivierung des Charakters ist für Aristoteles ein langwieriger Prozess moralischen Übens und Eingewöhnens.

Aristoteles geht nicht darauf ein, ob ein Üben und Eingewöhnen die Auswahl von Tugenden beeinflusst. Denken wir nach, ob uns neben fremden Ideen auch eigene prägen könnten! Ist das Unbewusste etwas, das absichtlich unbewusst bleiben will? Ver-ändert es Ideen und Gefühle, ohne dass wir es merken?

Jeder gestehe sich seine guten und schlimmen Ideen ein! Viele glauben, glaubenslos zu denken. Wieviel mehr muss man glauben, um gut- oder ungläubig zu werden! Beeinflusst eine unbewusste Geschichte intensiver als die bewusste Geschichte die persönliche Zukunft?

Was gilt? Der menschliche Rhythmus bedarf des Schlafs und Vergessens. Jede Kommunikation beginnt in einer materiellen Stille, eingebettet in Medien wie z.B. Bücher, Chipkarten, Festplatten, Tastsinn, Augen oder Gehör, die alle von sich aus kein Signal geben, um eine Kommunikation einzuleiten.

Mag auch Homo sapiens sapiens die einzige Spezies sein, die weiß, wann er die Grenzen der Fähigkeit erreicht, sich selbst zu verstehen: Was prägt den jagenden und sammelnden Urmenschen? Er eignet sich Antworten auf Gefahren durch Strategien seiner Horde an. Was prägt den Sesshaften? Er eignet sich Verstandestugenden an, die durch Belehrungen und einen langwierigen Prozess moralischen Übens und Eingewöhnens erworben werden – unter Aufsicht komplex organisierter Sippen.

Was prägt den König, Diktator, Revolutionär oder Demokraten? Sie dürfen um der Karriere Willen nie die schlimmste Idee aussprechen, die sie haben! Gibt es Vermutungen, wie viele Fragen unbeantwortet und wie viele Antworten verschwunden sind, und welche der überlieferten Ideen sich durchsetzten?

Warum sind Vernunft, Wissenschaft und Beweise so machtlos gegen Aberglaube, Religion und Dogma? Menschen, die Macht über andere gewinnen, missbrauchen sie gern. Die Prägung im biologischen Sinn wandelt sich zur Prägung im kultischen oder soziologischen Sinn. Mit Sesshaftigkeit und Staatenbildung bilden sich die dynamischen Hauptsätze der Soziologie heraus.

Jede Befreiung von Wertvorstellungen und Beziehungsmustern führt nicht in Freiheit, sondern zur Befangenheit in neuen Wertvorstellungen und Beziehungsmustern. Schon in Tierpopulationen mit mehreren Rangebenen entstehen soziale Beziehungsmuster, die individuelle Vorteile bieten. In sozialen Systemen jedoch führt die Gewinnsteigerung der Einen zu Verlusten der Anderen, wie z.B. Produktivitätsgewinne zu Arbeitsplatzverlusten führen.

Jeder Sieg führt zu Niederlagen einer Gegenseite. Sesshaftigkeit fördert Seuchen, Erfolge der Medizin belasten Sozialsysteme, das Sozialparadoxon, mehr herauszuholen als eingezahlt zu haben, schwächt die Sozialkassen. Globalisierung erwürgt Heimatgefühle, Entmilitarisierung bringt Terroristen Vorteile.

Was prägt den Christen? Glaubt er, ohne Glauben leben zu können? Wieviel musst du glauben, wenn du Politikern oder Wissenschaftlern glaubst! Eine Tragikomödie wird geboren: wer nicht mitspielt, dem wird mitgespielt. Schnell passt man sich der öffentlichen Meinung an und verliert den Mut auszubrechen. Den dynamischen Hauptsätzen gemäß verdichten sich soziologische Umstände, und jeder erlebt es. Die Prägung im biologischen Sinn verwandelt sich zur Prägung im kultischen oder soziologischen Sinn. Sind wir schlau genug, wenn wir die Grenze unserer Fähigkeit erkennen, Geist und Seele zu verstehen?

Befreie den Menschen vom Kampf um die Existenz – und nach einer Weile wird er aufhören zu existieren, Mensch zu sein. Rückblickend ist das Leben wie ein Märchen: Es war einmal. Denn der Preis eines jeden Lebensweges sind die vielen, an Gabelungen nicht eingeschlagenen Wege. Unser Leben ist kein Traum, aber es soll ein schöner Traum werden.

 

Published inProsa

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