Beitrag zur Lesung über „Inseln“ beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018
Waltrud Wamser: Krasznai: Zehn Bücher für eine einsame Insel
Im Religionsunterricht stellte uns der Pfarrer einmal die bekannte Aufgabe, zehn Bücher auszuwählen, die wir mit auf eine einsame Insel nehmen wollten. Um opportunistische Flunkereien von vornherein nicht ins Kraut schießen zu lassen, setzte er hinzu: „Die Bibel ist schon dort“. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir auf der Insel bleiben sollten, doch es ging um eine beachtliche Zeitspanne, die zu ertragen uns die mitgebrachten Bücher helfen sollten. Von meiner damaligen Wahl kann ich mich nur noch an mein Lieblings-Kinderbuch erinnern: Tamara Ramsay, „Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott“. Es waren drei Bände, die ich heute noch besitze und nicht aus der Hand gebe, aber wohl kaum mehr auf eine Insel mitnähme. Es geht darin um ein 12-jähriges Mädchen, dem in der Johannisnacht eine Blüte der „Rennefarre“, des Rainfarns, in den Schuh fällt. Daraufhin wird sie unsichtbar, versteht und spricht die Sprache der Tiere und steigt tief in die Geschichte ihrer brandenburgischen Heimat hinab. Mit 14 oder 15 Jahren sollten wir dann vor der Klasse über ein Buch unserer Wahl referieren. Eigentlich hätte ich über das Dott-Alter hinaus sein müssen, doch voll kindlicher Begeisterung verfasste ich einen Bericht, der mir heute noch gefällt, über mein Lieblingsbuch. Viele Mitschüler werden es langweilig gefunden haben. Umso mehr erinnere ich mich der Anerkennung einer Klassenkameradin, die mir mit glänzenden Augen zu meinem Referat gratulierte; sie wurde später Journalistin. Mein Direktor jedoch, als er einmal Vorschläge aus Schülerkreisen zum Erwerb von Büchern für die Schulbibliothek haben wollte, blätterte in meiner „Dott“ und lehnte sie ab, mit der Begründung, die historischen Abenteuer spielten sich ja alle jenseits der Elbe ab! Wir waren schließlich hier im Wilden Westen und befanden uns im Kalten Krieg! Dabei stammte der Gestrenge selbst aus Berlin.
Also, was würde ich heute mitnehmen?
- Karin Fossum, „Schwarze Sekunden“, einen norwegischen Krimi, der den Leser bis zum Schluss darüber im Unklaren lässt: Hat er oder hat er nicht – nämlich einen schwer Betrunkenen, der ihm hätte gefährlich werden können, betrunken wie er selbst war, zwischen Kopenhagen und Oslo über die Reling gestürzt, oder hat er ihn „nur“ nicht davor bewahrt, im Suff von selbst über die Reling zu fallen? Das ist lediglich ein Strang der Erzählung, ein Nebenschauplatz. Mein Taschenbuch mit dem äußerst spannenden Inhalt ist schon völlig zerlesen. Ich kann es nicht für einen ganzen Monat entbehren.
- Christine Brückner, Die Quints. Nein, nicht die früheren Poenichen-Bände, nur diesen, wegen der fesselnden Gestalt der „Madame seule“ und überraschenden Wendungen in den schlagfertigen Dialogen, mit denen die Hauptfigur in Gesprächen mit ihren Kindern und anderen Diskussionspartnern verblüfft.
- Elsa Morante, Navona mia – nein, nicht „Arturos Insel“, was doch nahe gelegen hätte – sondern eine Eloge an „ihre“ Piazza Navona, die nämlich die schönsten und berühmtesten Plätze der Welt weit in den Schatten stelle, z. B. den Campo in Siena, den Markusplatz in Venedig, den Roten Platz in Moskau. Morante lässt die konkurrierenden Plätze selbst sprechen, den Londoner Times Square mit seinem modernen Geist gegenüber der alt-ehrwürdigen Navona, oder di Piazza della Signoria in Florenz, gegen deren edle Statuen, das gibt die Autorin selbst zu, die „Kolosse von Navona“ einfach verblassen, oder die grün-goldenen Kuppeln im Zentrum von Isfahan. Unerschrocken legt Morante sich ins Zeug für einen Platz, auf dem sie sich zu Hause fühlt, wo sie aufatmet und wohin sie geht, wenn sie einfach nur eine Tasse Kaffee trinken will.
- -6. Thomas Mann, Erzählungen (Wälsungenblut, Tonio Kröger, Die Betrogene). Hier kann ich Sie doch wohl Ihrem eigenen Urteil überlassen?
- 7.-9. Marie-Luise Kaschnitz, „Lange Schatten“, eine anrührend altmodische Erzählung, die ich schätze wegen der brillanten Sprache und der ebenso knappen wie glänzenden Schlusswendung, einer Gabe, mit der die Autorin auch anderen Erzählungen ihren besonderen Schliff verleiht, dem „Strohhalm“, den „Eisbären“ oder den „Gespenstern“. Die Kaschnitz, eine geborene Freiin von Holzing-Berstett aus Bollschweil im Breisgau, war mit dem Archäologen Guido von Kaschnitz-Weinberg verheiratet, der von 1953-1955 das Deutsche Archäologische Institut in Rom leitete. Während er bei seinen Kollegen außerordentlich beliebt war, galt seine Frau als schwierig und nahezu unsympathisch. Als ich das von Prof. Buchholz hörte, der zunächst als Patient zu mir kam und mich später um meine Mitarbeit bei seinen Zypern-Publikationen bat, war ich völlig entsetzt. Ich verehrte die Kaschnitz wegen ihres exzellenten Stils, und sie gehört noch heute zu meinen literarischen Vorbildern. Buchholz wusste kaum etwas von den eigenen Leistungen der Professoren-Gattin und erkannte lediglich an, dass sie ihren Mann während seiner tödlichen Krankheit hingebungsvoll pflegte. Er hatte vermutlich nicht eine ihrer Erzählungen gelesen! Fragen kann ich ihn das jetzt nicht mehr.
- 10. Ludwig Thoma, Käsebiers Italienreise, ein erheiterndes Kabinettstück voller Baedecker-Beflissenheit und bürgerlicher Halbbildung, über die am Ende kernige Bodenständigkeit und gesunder Menschenverstand triumphieren.
Copyright Dr. Dr. Waltrud Wamser-Krasznai
Dr. med. Dr. phil. Waltrud Wamser-Krasznai, geb. 1939 in Darmstadt. Studium der Medizin in Freiburg und Marburg, 1965 Promotion zum Dr. med. Kassenarztpraxis als Fachärztin für Orthopädie 1974-2007, anschließend privatärztlich tätig.
1996 Magister artium in Gießen (Klassische Archäologie, Alte Geschichte).
2003 Promotion zum Dr. phil. Freie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Klassische Archäologie der JLU Gießen.
Bibliographie. Auswahl:
2000: Frauenraubszene. Eine Kalksteingruppe aus Tamassos, in: Periplus. Festschr. Hans-Günter Buchholz
2003: Drei Terrakottastatuetten, in: Die Akropolis von Perge I (Mainz 2003)
2006: Irdische Füße olympischer Götter (mit M. Hundeiker, M. Recke)
2007: Antike Weihgeschenke im Blickpunkt der Andrologie, in: Kleine Kulturgeschichte der Haut, 100-103
2007: Tempelknaben in Tamassos (mit H.-G. Buchholz) RDAC 2007, 229-256
2008: Kultische Anatomie (mit M. Recke). Katalog und Broschüre zur Ausstellung im Medizinhistorischen Museum Ingolstadt
2011: Die Gicht! Eine Hure ist sie, eine verfluchte Hure! Die Gelenkleiden des Hermann Hesse, Orthopädie & Rheuma
2012: Wie man sich bettet…Lager und Lagern in antiken Heil-Heiligtümern, Les études classiques 80, 2012, 55-72
2012-2013: Auf schmalem Pfad (Minerva Verlag Budapest)
2013: Für Götter gelagert. Studien zu Typen und Deutung Tarentiner Symposiasten (Minerva Verlag Budapest)
2015: Fließende Grenzen (Minerva Verlag Budapest)
2015: Aphrodite auf der Akropolis von Perge? (mit M. Recke) in: Figurines de terre cuite en Méditerranée grecque et romaine (Villeneuve d’Ascq 2015) 547-553
2016: Beschwingte Füße (Minerva-Verlag Budapest)
2017: Streufunde. Aus Archäologie und Dichtung (Weinmann Filderstadt)
2017: Katalog ausgewählter tier- und menschengestaltiger Figurinen, in: Die Akropolis von Perge (Antalya 2017) 427-454
2017: Terrakotta- Plaketten mit weiblichen Figuren („Astarteplaketten“) aus Tamassos, RDAC 2011-12 (Nikosia 2017) 513-545
2018: Scholien und Spolien (Weinmann Filderstadt)
2018: Mäander (Weinmann Filderstadt)
2019: Alpha-Götter 19.12.2019 (Weinmann Filderstadt)
2021: Füllhorn (Weinmann Filderstadt 2021)
2023: Nachlese (Minerva-Verlag Budapest)
2024: Asklepiaden (Minerva-Verlag Budapest)