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Das Gute an Fehlern (Helga Thomas)

 

Gestern saß ich im Zug von Berlin nach Basel. Ich kehrte von einem Kongress zurück, der für mich sehr wichtig war – sicher nicht nur für mich – und eine Mitgliedsversammlung hatte stattgefunden, die – vielleicht – noch wichtiger war als der ganze Kongress (objektiv und für mich). Ich schaute aus dem Fenster, trank Kaffee, Tee oder Wasser und erinnerte mich,  liess alles noch einmal Revue passieren. An dem Morgen war mir ein kleines Missgeschick passiert, dass mich an ein ähnliches Jahrzehnte zurückliegendes Missgeschick erinnerte. Ich verspürte den Impuls, darüber zu schreiben. Mein Mac Air war schon vor mir auf dem Tischchen. Ich schrieb und schrieb, die Gedanken flogen mir nur so zu, fast eine Seite war schon voll, da passierte es: Ich kann es nicht genau diagnostizieren, Absturz oder Aufhängen (Überlebenschancen in beiden Fällen gleich null). Ich hatte gehofft, dass mein etwas  kapriziöses Wordprogramm sich mit mir oder meinem Mac versöhnt hatte…

Ich tröste mich damit, dass ich nicht Korrektur lesen muss, denn aus den Augenwickeln hatte ich gesehen, dass es viel rote Unterstreichungen gab! Noch mal beginnen? Wieder einen Absturz oder Erhängen riskieren? Nein, danke! Vielleicht morgen oder irgendwann. Eigentlich war der Text ja schon geschrieben, wenigstens in mir. Wie das nun mal meine berufsbedingte Art als Psychotherapeutin ist, fragte ich mich heute Morgen auf dem Spaziergang mit meiner Hündin, ob sich dahinter vielleicht irgendein Grund verstecke? Ich kam auf einen anderen Fehler, der mir am Anfang des Kongresses passiert war. War der nicht viel wichtiger, sollte ich vielleicht von ihm erzählen?

Wie soll ich die nötige Information kurz und knapp vorausschicken? Es war im Vorfeld einiges Ungute geschehen. Auf objektiver Ebene, mehr noch auf persönlicher Ebene. Ich hielt mich im Vorfeld für besser informiert als die Mehrheit. Eine kleine Info per E-Mail, hatte in der darauffolgenden Nacht unangenehme Ängste ausgelöst, ein nicht näher zu definierendes Gefühl von Beklemmung. Ich hatte bei der Informantin vorsichtig nachgefragt und … die Antwort: „Ich bin im Weltuntergang“, tat ein Übriges, dass ich mich von der emphatischen Kollegin über die klar analysierende Therapeutin zur kämpfenden Mutter entwickelte. Ich setzte meine kriminalistische Begabung ein, versuchte hier und dort Informationen aus dem Nähkästchen zu erhalten und schließlich war auch ich in Sorge, bzw. schäumte ich vor Wut und entwarf – das war psychohygienisch absolut nötig, sozusagen psychotherapeutische Prophylaxe – einen Schlachtplan. Den galt es nun, wenn nötig, in die Tat umzusetzen. Möglichst so, dass Nähkästchenplauderer nicht erkannt wurden.

Vor der MV fand unsere Großgruppe statt (der Ort, gleichermaßen geliebt und gefürchtet, wo jeder über seine Gefühle, Ängste, Träume und Visionen sprechen kann, ohne zu befürchten, be- und verurteilt zu werden). Ich war erstaunt, dass einige erwähnten, dass der Vorstand zurück treten wolle. Moment mal, war das nicht ein angesteuertes Ziel? War mein ,,Schlachtplan‘‘ nicht Teil davon, dies Ziel zu erreichen? Auch dort sprach einer ganz offen davon und da, die mir unbekannte Kollegin links in der Ecke… woher wussten denn so viele davon? Und Anwesende des noch nicht zurückgetretenen Vorstandes… hörten schweigend zu, mit verschiedenen Gesichtsausdrücken. Ich möchte auch nicht urteilen, weder be- noch ver-. Meine Irritation wuchs ins Unermessliche! Wie sollte ich mich nun verhalten? Ich ergriff das Wort und sagte klipp und klar und unmissverständlich: „Ich verstehe kein Wort! Kann mich vielleicht einer mal informieren?“

Ein Sturm brach los. Ich verstand nicht unbedingt mehr, aber die Stimmung wurde besser. Ich war nicht mehr allein. Der klärende Prozess (mehr bei mir als bei den anderen) setzte ein, als eine neue, mir noch unbekannte Kollegin meinte, dass ich ihr aus dem Herzen gesprochen hätte. Erst habe sie sich eigentlich ganz unvoreingenommen auf den Kongress gefreut, aber als sie im Mitgliederrundschreiben las, dass der Vorstand zurück treten wolle, habe sie nichts mehr verstanden. Ich muss sagen, meine Irritation nahm darauf doch wieder zu. Von was sprach sie?

Ich muss etwas einschieben. Wir hatten vorher alle einen sehr schön gestalten Rundbrief bekommen, der aussah wie eine tolle Zeitschrift, ich hatte mehr oder minder alles mehr oder minder gründlich gelesen, auf jeden Fall wusste ich, was drin stand. Aber dann bekamen wir noch einen speziellen Mitgliederbrief als Vorbereitung auf die Mitgliederversammlung per E-Mail, den liess ich mir von meinem Copyladen ausdrucken um Platz und Papier zu sparen: beidseitig. Ich hatte ihn mal flüchtig durchgeblättert und stellte fest, dass ich die letzten Seiten vor Ort lesen könne, das andere las ich sehr gründlich. Und nun das! Nach einiger Zeit klärte sich das Missgeschick: genau auf der Rückseite von dem Blatt, wo ich aufhörte zu lesen, war dieser Brief des Vorstands! Warum hatte ich das nicht auf der Zugfahrt gelesen, wie ich es mir doch eigentlich vorgenommen hatte? Ich weiß es nicht, ich weiß jetzt nur, dass, auch wenn ich es gewollt hätte, nicht gekonnt hätte, dieser Mitgliederbrief ist schlichtweg verschwunden. Vielleicht habe ich ihn konstruktiv recycelt und als Konzeptpapier verwendet.

Nach der Großgruppe kam meine Hauptinformantin und Hauptbetroffene (die, die im Weltuntergang war) auf mich zu und sagte bewundernd: ,,Du kannst ja vielleicht schauspielern! Es wirkte so echt! Man hätte meinen können, du hast von Tuten und Blasen keine Ahnung.‘‘ Ich kam erst nicht dazu ihr zu sagen, dass ich weder von Tuten noch von Blasen irgendeine Ahnung hatte! Dieses ihrer Meinung nach absolute (von mir geschauspielerte) Nichtswissen habe den Boden dafür bereitet, dass nun endlich alle Informationen gesagt werden konnten!

Irgendwann werde ich jetzt heimgekehrt sie per Telefon darüber aufklären. Ich weiß nicht, ob sie meinen Fehler genauso bewundern wird wie meine angebliche schauspielerische Begabung, also warte ich noch etwas mit der Aufklärung, um es mir noch in der Bewunderung gut gehen zu lassen.

Ich hoffe, dass ich dieses Erlebnis nicht so schnell vergesse, dass ich mich erinnere: Manchmal werden im Drama des Lebens vom Regisseur Schicksal korrigierende Regieanweisungen in Gestalt vermeintlicher Fehler eingesetzt:

 

Copyright Dr. Helga Thomas

 

Dieser Text wurde vorgetragen auf dem Jahreskongress de BDSÄ 2105 in Bremen in der Lesung mit dem Thema „Fehler“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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