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Was mir mein Freund, das Papierwesen, riet (Helga Thomas)

Tagebuch

Was mir mein Freund, das Papierwesen, riet

Auf dem Weg von der S-Bahn zu meiner Praxis komme ich an einem Straßenantiquariat vorbei. Jedes Buch, egal wie alt, wie neu, wie groß, wie klein, wie dick, wie dünn, wie gut erhalten oder weniger gut, kostet 1 Euro. Eine unendliche Versuchung für mich, aber zudem noch eine unendlich viel größere Bereicherung und … ich habe immer Geschenke parat. Heute fiel mein Blick auf den Anfang eines Titels, doch bevor ich ihn rausnehmen konnte, oder es, das Buch, sah ich ein anderes schönes Bild: die Sixtinische Kapelle. Ich nahm es, fing an zu lesen im Klappentext. Natürlich machte es mich neugierig, ich bin verführbar. Ich wollte aber auch das andere Buch anschauen. Da hörte ich wieder, ohne zu hören, es war mehr ein Gefühl, das ich grade hörte, dieses unangenehme Kreischen. Ich wusste, das ist jetzt ein Elementarwesen, ein Gnom oder ähnliches. Nein, es war mein Papierwesen. Es sagte: „Kauf beide, nimm beide mit!“ Ich zögerte einen Moment, guckte mir inzwischen das andere an, es war ein Thriller, ich wollte es zurücklegen. Es sagte: „Lies weiter.“ Ich las weiter. Da geht es darum: eine junge Schülerin, die Wahnideen hat und mit Wahnideen kämpft und in denen lebt. Also sozusagen Fachliteratur. Und dann wusste ich nicht, nehm ich nun den Roman über die Sixtinische Madonna und irgendeine obskure Geliebte eines Papstes? Da sagte das Papierwesen wieder: „Nimm es mit, leg es hin, dann lesen wir es. Und wenn wir es gelesen haben, sagen wir dir, welche Seiten wichtig sind. Und die liest du dann und dann weißt du, ob du es lesen musst, willst oder sollst. Du musst nur ab und zu das Buch in die Hand nehmen und darüber meditieren, dann können wir dir leichter sagen die Seiten, die du lesen musst. Das vergisst du immer. Und das ist dann so mühsam für uns, bis du endlich kapierst, dass du diese Seite aufschlagen sollst.“ Aha, ich hatte viel gelernt. Ich fing an, darüber nachzudenken. Da fiel mir ein: Ich stehe mit meinem Hund und zwei Gepäckstücken mitten auf der Straße, ich muss jetzt die 2 Euro einwerfen und gehen. Und als ich ging, sagte ich in Gedanken zu dem lieben Freund, ob er mir nicht gleich sagen könne, was am Buch für mich gut sei. „Nein, wir müssen es gelesen haben.“ „Okay, versteh ich. Ja aber dann könnt ihr mir doch sagen…“ „Nein. Wir lieben andere Bücher als du.“ Aha. Und dann hörte ich eine gesetztere, ruhigere Stimme, während das jetzige wie ein Kind klang, könnte das sein Vater gewesen sein? Diese Stimme sagte: „Wir brauchen andere Bücher für unsere Entwicklung als du.“ Ist das nicht schön gesagt? Das werde ich jetzt immer sagen, wenn sich so ein Oberlehrer-Besserwisser empört, dass – weiß nicht – Schwiegertochter, Schwiegermutter oder wer auch immer, natürlich ein weibliches Wesen, solche „Schundliteratur“ liest, dann werde ich lächelnd zu ihm sagen: „Es liest halt jeder Mensch das, was er gerade für seine Entwicklung braucht.“

Dankeschön, ihr Papierwesen.

07.07.2020

Published inProsa

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