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Monat: Mai 2016

Langer Weg (Franz Jostberg)

Langer Weg Ich bin vor die Haustür getreten, habe sie sorgsam zugezogen und, nur um ganz sicher zu sein, mehrfach am Knauf gerüttelt. Habe den Schlüsselbund tief in die Hosentasche geschoben und mit der flachen Hand nochmal und nochmal nach ihm getastet. Im Losgehen dann wie jedes Mal zum Küchenfenster hinauf gesehen, obwohl doch dort niemand mehr stehen kann. Als ich über meinen Rollator gebeugt um die Hausecke biege, springt der Aprilwind mich an. Gerade, dass ich meinen Hut noch…

Das Meer hat keine Ufer (Franz Jostberg)

Das Meer hat keine Ufer Ich saß schon eine ganze Weile auf einer der Bänke am Ufer des Flusses. Je länger ich der gleichförmigen Strömung zusah, umso müder wurde ich. Und obwohl die Holzbank nicht sonderlich bequem war, fielen mir schließlich die Augen zu und ich schlief ein. Es war schon dunkel, als ich wieder aufsah. Der Fluss führte Hochwasser inzwischen. Merkwürdigerweise überraschte mich das kaum. Die Uferwiese hatte der Fluss sich schon einverleibt, den schmalen Radweg bereits überschritten, nur…

Am Zug (Franz Jostberg)

Am Zug Gespenstisch leise glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug hinterher, dessen rote Schlusslichter kaum noch zu erkennen waren. Klack! – Der Zeiger der Bahnhofsuhr sprang auf die volle Stunde. Der kalte Laut einer hoch über den Köpfen hängenden Guillotine. Ich hatte mit Frank ein wie immer viel zu kurzes Wochenende verbracht. Aber zum Glück würde ich ihm in drei…

Zertifizierer und Zertifizierte (Harald Rauchfuß)

Zertifizierer und Zertifizierte   Der Klinikverwalter hielt den Erlös des Hospitals seit Jahren in der Gewinnzone. Die Eingabe eines Advokaten bei Gericht, der die Konkurrenzklinik vertrat, zwang ihn zu einer Nachzertifizierung. Zertifizierer prüfen jedes angeforderte Papier genau, vergleichen es mit Hilfe elek-tronischer Schablonen, um keine Dokumentationslücke zu übersehen, und fordern ständig neue Informationen an. HansEmsig, der Leiter der Firma Zertissimo, genoss es, mit dem ständigen Stochern in Unterlagen bei den Kunden Dankbarkeit zu wecken. Jedes Klinik-Team möchte das andere übertreffen, die Gunst…

Tabubruch am Bosporus (Harald Rauchfuß)

  Tabubruch am Bosporus   Hans Adamski wusste, dass ihn niemand mochte: „Nun ja, ich bin schnell eingeschnappt, schnell aufgebracht, ich gehe allen auf die Nerven.“ Er hatte als Einzelkämpfer des Jahrgangs das Abitur erreicht; der Notenschnitt genügte für das Studium der politischen Wissenschaft. „Der Kapitalismus raubt uns aus. Der Westen vertritt falsche Werte, er hat keine Kraft“, waren seine Sprüche, „nur Alkohol, Drogen und Sex. Niemand macht etwas dagegen, der Untergang ist nahe!“ Seine Ansichten verscheuchten die letzten Freunde.…

Ketewan (Harald Rauchfuß)

Ketewan In Georgien wurde eine fromme Frau von einem Jungen entbunden. »Schau her«, munterte die Hebamme auf, »ein Bub, was für ein prächtiger Bub!« »Atmet er genug«, fragte Ketewan, die ängstliche Mutter. »Hör! Hör doch! Wie kräftig er schreit! Nimm ihn, den Buben, nimm ihn, leg ihn auf deine Brust!« Ketewan zögerte, die Hebamme drängte, die Mutter nahm den Knaben entgegen und betrachtete ihn. »Er ist ein Starker«, klatschte die Hebamme in die Hände, »sieh, wie er strampelt, wie er mit…

Auf Kosten des Hauses (Harald Rauchfuß)

Auf Kosten des Hauses   Der Aischgründer Gastronom respektiert die Notwendigkeit von Ausgaben sorgfältiger als das Finanzamt. Er hütet seine Finanzen. Auf Kosten des Hauses bietet er allenfalls an, von Laune zu Laune zu springen. Im Tor des Biergartens in Gutenstetten stand ein Mannsbild in blauer Schürze, offensichtlich der Wirt. Ein Gast ging auf ihn zu; er wollte wissen, ob es ein Bier gäbe. »Schon«, sagte der Wirt, »aberso, wie Sie daher kommen, gibt’s für Sie keines.« Der Mann versprach,…

Die Leiden des Philoktet und der Lessing´sche Laokoon (Waltrud Wamser-Krasznai)

Beitrag zur Lesung „Geheimnisse“ bei dem BDSÄ-Kongress in Würzburg 2016   Die Leiden des Philoktet und der Lessing’sche Laokoon   Zu meiner Schulzeit war es in der gymnasialen Mittelstufe noch üblich, am Tag vor Beginn der Ferien an die Tafel zu schreiben: “Es ist schon immer so gewesen – am letzten Tag wird vorgelesen.” Unser vorlesender Mitschüler machte das ausgezeichnet, und die Texte, die er zu Gehör brachte, waren unterhaltsam und erheiternd. Eines Tages hörten wir  “Der Besuch im Karzer”,…

Der Rausschmiss (Dietrich Weller)

Beitrag zur Lesung „Teufeleien“ beim BDSÄ-Kongress 2916   Spät abends Hausbesuch in einem Mehrfamilienhaus. Ja?“, krächzt eine junge Frauenstimme durch die Sprechanlage. „Hier ist Dr. Weller von der Notfallpraxis!“, sage ich. „Wir brauchen Sie nicht mehr, es hat sich schon erledigt!“ Die Stimme klingt fest. „Moment mal, wir sind doch extra gerufen worden! Was ist denn los?“ Ich höre im Hintergrund Stimmen, dann: „Ja, gut, dann kommen Sie mal hoch!“ Matthias, Rettungsassistent und mein Fahrer, mit dem ich schon viele…

Das Rosmarinsüppchen (Dietrich Weller)

Beitrag zur Lesung „Geheimnisse“ beim BDSÄ-Kongress 2016   Das Rosmarinsüppchen „Hallo Schatzi!“ Ich hasse diese einschmeichelnde Begrüßung! Schließlich hört man als erfahrene Frau die Lüge bei einem Mann schon, bevor er sie ausgesprochen hat. Ich musste nur noch genau hinhören oder hinschauen, um die Details zu erfahren. Henner hatte mich so oft an der Nase herumgeführt, und er machte sich geradezu einen Sport daraus, mich zu ärgern. Ich dumme Kuh habe ihm immer wieder verziehen. Mal habe ich aus falsch…

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