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Traummasken (Jürgen Rogge)

 

Ich stehe am Ufer der Stepenitz und schaue in das leicht getrübte Wasser. Eben noch war ich am neuen Kreisverkehr vorbei gekommen. Nun sind wir also mit zwei Kreisen ausgestattet. Als Kreisstadt eigentlich etwas wenig, hatte ich noch so gedacht. Andererseits reicht das auch wieder aus, es dreht sich ja sowieso oft genug alles im Kreise.

Ich schaue also in das Wasser. Und was sehe ich? Gesichter von lauter Nixen. Welch entzückende Wesen! Nun gucke ich genauer hin. Alle kommen mir bekannt vor. Ja, richtig, es sind die Gesichter meiner früheren Geliebten.

Das waren durchweg erlesene Schönheiten. Ihr Charakter war vom Feinsten, eine tugendhafter als die andere. Und alle aus Perleberg.

Die erste Geliebte, sie trug blonde, lange Haare, Spielte Klavier, war immer voller Hoffnung. Sie erfreute sich am Heute und erwartete neue Freuden im Morgen. Es machte ihr nichts aus, Lasten zu tragen. Durch das Verbreiten von Hoffnung machte sie die Schwachen, auch mich, stark. Sie besaß auch Wagemut und Geduld.

Die zweite Geliebte, sie spielte hervorragend Cello, war von dem Glauben an Liebe erfüllt. Glauben, sagte sie, sei leichter als Denken. Und Liebe, sagte sie, die sich nicht überwinden lässt, überwindet alles. Ein Leben ohne Liebe ist kein Leben. Liebe ist weise gewordene Begierde. Wo Freude wachsen soll, da muß man Liebe säen.

Die dritte Geliebte hatte kurze schwarze Haare und war deutlich älter als ich. Sie spielte Blockflöte und wirkte sehr weise. Ihre Maxime war ein Sprichwort aus Mosambik: Die Weisheit ist wie ein Affenbrotbaum, man kann sie nicht umfassen. Und sie liebte das deutsche Sprichwort: An drei Dingen erkennt man den Weisen: Schweigen, wenn Narren reden. Denken, wenn andere glauben. Handeln, wenn Faule träumen. Und mit gütigem Lächeln sagte sie: Wo einer weise ist, sind zwei glücklich.

Die vierte Geliebte, sie spielte mit Hingabe Querflöte, vertrat vordergründig die Gerechtigkeit, denn wo keine Gerechtigkeit ist, ist kein Friede. Und wo Gewalt Herr ist, da ist Gerechtigkeit Knecht.

Die fünfte Geliebte, sie trug kastanienbraunes Haar und spielte Geige, war tapfer in ihrer Genügsamkeit. Sie meinte, den Mutigen gehöre die Welt. Und wie sagte sie so treffend? Fleiß ist des Glückes rechte Hand, Genügsamkeit die linke.

Die sechste Geliebte hörte gerne klassische Musik und hatte häufig die entsprechenden Partituren dabei, um zu vergleichen, ob das Orchester auch richtig spielte. Sie hielt es besonders mit der Wahrheit. Ehrlich währt am längsten. Aufrichtigkeit überwindet alle Hindernisse.

Die siebente Geliebte, sie hatte ihre Haare an den Schläfen grünlich gefärbt und sang ein wunderbares Alt, übte insbesondere Barmherzigkeit, denn diese ist größer als das Recht. Dabei sei zu differenzieren: Barmherzigkeit gegenüber den Wölfen ist Unrecht gegen die Schafe. Verbunden mit der Barmherzigkeit war bei dieser Frau ihre Friedfertigkeit. Sie ging davon aus, dass ein friedlicher Strom blühende Ufer hat.

Die achte Geliebte, sie spielte Orgel und hatte ihre Haartracht mit kleinen falschen Zöpfchen verschönert. Sie ging davon aus, dass Güte mehr als Gewalt tut. Wer Güte erweist, kann Güte erwarten. Gleichzeitig war diese Frau voller Demut und sagte einmal: Besser demütig gefahren als stolz gegangen.

Dann sah ich, wie sich die Geliebten alle auf der Wiese im Hagen  versammelten, ihre Masken vom Gesicht nahmen und darüber schmunzelten, dass ich ihnen all ihre Tugenden geglaubt hatte.

Ah, dachte ich, es ist also nicht alles echt, die Frauen tragen Masken.

Ich ging rasch nach Hause zu meiner Frau und wollte ihr die Maske vom Gesicht reißen. Doch sie trug keine.

 

Published inProsa

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