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Der Morgen (Gerhard Langenberger)

 

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Es war noch früher Abend, trotzdem war es schon dunkel, fast finster. Der kühle Wind trieb dichte Regenschwaden durch die menschenleeren Straßen. Wenn dennoch jemand unterwegs sein musste, eilte er tief nach vorne gebeugt unter einem Regenschirm, der eng vor den Körper gehalten wurde, mit hochgestelltem Mantelkragen nach Hause. In den Wasserlachen doppelten sich die Lichter, ohne dass es heller wurde. Die Straßenbahn ratterte quietschend durch die verlassenen Straßen.

Ein Mann saß mit Schulter und Stirn an die kühle Scheibe gelehnt. Außen erschienen tausende von Tropfen, die sich trafen und als kleine Bäche schnell die Scheiben hinunter eilten. Über die Backen des Mannes floss ebenfalls ein kleiner Bach. Die Tränen tropften vom Kinn auf seine Hose. Der Mann blickte leer durch das Fenster nach draußen, ohne irgendetwas wahrzunehmen. Als die Straßenbahn hielt, stand er auf und stieg aus. Einen kurzen Moment stand er, dann wendete er seine Schritte in Richtung Pier. Der heftige Regen hatte aufgehört. Es nieselte nur noch unangenehm kalt. Der Mann sollte eigentlich frösteln, nur mit einem leichten Shirt bekleidet, aber es war ihm heiß, er schwitzte sogar zwischen den Schulterblättern. Ohne auf die Pfützen zu achten, ging er langsam zum Wasser hin. Seine fransig getretene Jeans zog Wasser. Er achtete nicht darauf. Seine Schritte klangen leise hallend, als er am Meer entlang ging. Er fühlte sich einsam und allein. Sein Blick suchte immer wieder das Weite und den unsichtbaren Horizont. Leichter Neben stieg vom Wasser auf. Es war nun windstill,und die Straße lag ruhig und verlassen. Jetzt blieb der Mann stehen und starrte, seine Unterarm auf der nassen gusseisernen Brüstung aufstützend, ins Leere.

„Annett, warum hast du mich verlassen?“

„Warum so plötzlich? Ich konnte nicht einmal mehr Adieu sagen.“

„Ach, Annett, Liebste, warum bist du weg, einfach weg, für immer weg von mir?“

Diese Fragen stellte er sich immer wieder und wieder, ohne eine Antwort zu finden.

Diese Gedanken kreisten in seinem Kopf. Immer wieder. Es gab keine Antwort. Es gab keinen Trost. Das Einzige, was er spürte, wirklich spürte, war dieser zerreißende Schmerz in seinem Inneren. Der Mann fühlte sich leer, einsam, unsagbar einsam und traurig. Er blickte weiter auf das ruhig Wasser mit seinem weißen Nebelhauch.

„Komm, komm zu mir, schien es zu sagen, komm zu mir. Bei mir ist es weich und warm. Hier bist du geborgen, für immer. Und vielleicht bist zu Annett ganz nah. Komm, es ist nur ein kleiner Schritt. Ein ganz kleiner Schritt.“

Der Mann hörte die lockenden Worte ganz deutlich. Wieder blickte er auf das dunkle Wasser mit seinem Hochzeitsschleier.

„Ja, das ist die Lösung.“

„Ja, Annett, ich komme“, sagte der Mann laut.

Hinter sich hörte er, wie eine Tür geöffnet wurde. Musikfetzen trieben zum ihm. Dann wurde die Tür wieder geschlossen, und es war wieder ganz still. Ali las er über dem Eingang. Langsam und schwer ging er hinüber, öffnete die Tür und betrat das schmuddelige Lokal. Wieder hörte er die Musik, die aus einem Fernsehgerät in der Ecke kam. Er sah einige Menschen drum herum sitzen und auf die Bilder sehen. Er trat an die klebrige Bar. Ein junger dunkelhaariger Mann kam zu ihm, den Blick nicht vom Fernsehapparat zu wenden.

„Einen Schnaps, bitte. Einen Doppelten“, bestellte der Mann. Wortlos stellte der Junge das Gewünschte auf die fleckige Platte und verschwand. Vor sich hin starrend trank der Mann den Schnaps in kleinen Schlucken. Er bestellte noch einen und dann noch einen und dann noch einen doppelten Schnaps. Der Störungen leid stellte der Junge die Schnapsflasche neben das Glas und ging zurück in die Ecke mit dem Fernsehgerät.

Irgendwann später, die Flasche war ziemlich leer, klemmte der Mann einen Geldschein unter die Flasche. Unsicheren Schrittes verließ er das Lokal. An der Brüstung stehend blickte er auf das Wasser. Jetzt war es dunkle Nacht. Das rote Licht der Hafeneinfahrt spiegelte herüber. Der Mann hörte die verlockenden Worte, dem Gesang der Sirenen gleich. Die Fäuste krampften sich zum Sprung um das Geländer. Plötzlich spürte er einen feucht-schwitzigen Körper neben sich. Der Mann roch einen Atem, nach Knoblauch, Schnaps und kaltem Zigarettenrauch stinkend. Ein schwerer Arm mit einer riesigen feuchten Hand legte sich väterlich um seine Schultern. Der Mann blickte auf und sah in ein breites, fettiges Gesicht, mit einem mächtigen schwarzen Bart über der Oberlippe. In den langen Barthaaren klebten Schweiß und Speicheltropfen. Mit hartem türkischen Akzent sagte er, „Mein Freund, wir gehen wieder hinein. Du wählst den falschen Weg. Wir trinken noch ein Glas zusammen. Dann erzählst du mir alles.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er den Mann mit seinem kräftigen Armen zurück in das wärmend Lokal. Die Flasche stand noch am selben Platz. Ali holte noch ein Glas und füllte die Gläser. Das hob er sein Glas und beide tranken in einem Schluck aus. Wieder füllte Ali die Gläser. Dann sagte er, „Sprich, du bist unter Freunden.“

 

Am nächsten Morgen wurde der Mann durch einen heftigen Tritt geweckt. Er lag auf einem Haufen Decken in einer Ecke. Der Mann öffnete die Augen und schloss sie sofort geblendet wieder. Jetzt bemerkt er den pochenden Schmerz im Hinterkopf und in den Augen. Er fühlte sich kräftig hochgerissen und auf die Füße gestellt.

„Ayda hat dir ein Frühstück gemacht. Setz dich an den Tisch.“

Der Mann wurde stützend durch die Tür nach draußen geschoben. Blinzelnd schaute er sich um. Die Sonne schien warm an diesem frühen Morgen. Normale Geschäftigkeit wogte um ihn herum. Menschen gingen zur Arbeit, Autos fuhren an ihm vorbei. Große Lastschiffe fuhren langsam auf das Meer hinaus. Der Mann erblickte jetzt, dass eines der kleinen Tischchen, die an der sonnenbeschienen Hauswand entlang aufgestellt waren, für ein Frühstück gedeckt war. Er wurde an den Tisch gesetzt. Vor ihm standen warme Croissants und frische Brötchen. Auf einem Teller war scharfe Salami mit Schafskäse angerichtet. Es gab Butter, Honig und Marmelade.

Ali stellte eine Tasse extra starken Kaffee vor ihm auf den Tisch.

„Schau, ein neuer Tag ist wie ein neues Leben. Wenn es dir wieder einmal schlecht geht, dann komm. Hier bist du unter Freunden“.

 

In meinem ganzen weiteren Leben, immer wenn es mir schlecht geht, spür ich den feucht-schweißigen Körper, die mächtige fleischige Hand und rieche den Atem, der nach Knoblauch, Schnaps und kaltem Zigarettenqualm stinkt.

Copyright Dr. Gerhard Langenberger

Published inProsa

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