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Ein Blütentraum (Jürgen Rogge)

Ein Beitrag zur Lesung Gehen oder Bleiben beim BDSÄ-Kongress in Gummersbach 2017

 

Ein Blütentraum 

Immer, wenn ich durch Schönhagen fuhr, der an dem verzweigten See gelegenen Stadt mit einer doppeltürmigen Kirche, stieg in mir die Erinnerung an Dich auf.

Bevor der Zug hielt, blickte ich in die Bahnhofstraße, eine Allee mit japanischen Zierkirschen, die zur Blütezeit im Mai mit ihrem strahlenden Weiß-Rosa die Seele heller leuchten ließ.

Und wenn der Zug hielt, schaute ich auf den Bahnsteig hinaus. Aber ich sah Dich nie.

Hätte ich aussteigen sollen, um Dich zu suchen? Nein. Das Leben war anders gelaufen. Ich hatte schließlich Familie, Kinder, eine interessante Arbeit.

Und doch. Ich musste an Dich denken.

Warum bin ich nicht bei Dir geblieben? Du warst so großartig. Dir vor allem verdanke ich  so wunderbare Erlebnisse und Gefühle. Wir konnten so herrlich miteinander lachen. Was haben wir nicht alles gemeinsam unternommen!

Du warst nicht nur schön, sondern auch klug. Das in einer Person, sagte mein Vater, finde sich selten.

Du spieltest Flöte und machtest mich mit Musik vertraut, die ich nicht kannte. Ich war fasziniert davon, wie Du die richtigen Finger im richtigen Moment auf die richtigen Öffnungen setzen konntest, damit der richtige Ton entstand. Ich durfte auch probieren, aber es kam nur ein Quietschen zustande.

Als wir in Berlin waren und Du mich in die Staatsoper zum Violinkonzert von Mendelssohn-Bartholdy führtest, lernte ich eine ganz andere Welt kennen. Aber als Du mir die Schallplatte mit diesem Konzert, Du hattest sie unter Schwierigkeiten gerade erst erworben, eine Woche  später vorspieltest, kam mir die Musik nur „irgendwie bekannt“ vor.

Du warst mir in dieser Beziehung über, ebenso beim Anhören von Balladen, die Peter Anders sang. Und Du verfolgtest sogar alles auf der Partitur.

Ich besitze diese Schallplatten noch und höre sie zuweilen.

Weißt Du noch, als wir zelteten? Nachts kamen Wildschweine. Ohne Dich hätte ich mich nicht getraut, sie zu vertreiben. Wir gingen dann noch am See entlang. So schön hat der Mond – ganz nahe, groß und orangefarben leuchtete er – nie wieder geschienen. Über dem Wasser zogen zarte Nebelschwaden dahin. Beim Fangen von Glühwürmchen glitten wir ins schon etwas feuchte Gras, was wir erst später bemerkten. So laue Nächte gab es niemals mehr.

Als wir einmal an den FKK-Strand gelangten, bedeutetest Du mir, dass das noch nichts für mich sei.

Nun ja, von zu Hause kannte ich Nacktbaden nicht. Aber Du warst doch ohne Badeanzug noch viel schöner als mit. Deine ebenmäßigen Beine waren an den Waden mit kleinen schwarzen Fusselhaaren bedeckt. Du hattest es gerne, wenn ich sie Dir streichelte. Heute rasieren sich die Mädchen diese Haare ab und erinnern mich an Nacktschnecken.

Oh, und die Leberflecke auf Deinem Rücken sahen aus wie das Sternbild der Waage. Du hattest gescherzt: „Wer waagt, gewinnt.“

Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass Du die Gans zum Mittag im Backofen braten musstest. Deine Mutter wollte mir wohl zeigen, dass Du auch kochen konntest.

Und ich durfte die braun gebratene Gans zerlegen. Vermutlich wollte Deine Mutter sehen, ob ich das Tranchieren beherrsche.

Als ich den ersten Flügel abtrennte, kam noch Blut aus dem Gelenk. Die Gans war nicht gar geworden. Ein Schreck für Deine Mutter und vor allem wohl für Dich. Und sofort erklärtest Du, dass wir Chinesisch essen würden. In China würde, jedenfalls bei Ente, nur die Oberschicht mit der Haut in Oblatenstärke abgetrennt und verspeist. Das hattest Du gelesen, wie Du mit später verraten hast. Wir aßen also Chinesisch und die Situation war gerettet.

Später haben wir noch oft darüber gelacht, vor allem über das Gesicht Deiner Mutter.

Du konntest auch so unbeschwert tanzen. Unvergesslich, Dich in den Armen zu halten.

Als Du auf dem Betriebsfest, wohin ich Dich mitgenommen hatte, in Deinem weißen Kleid mit dem wehenden Rock allein weiter tanztest, weil Du nicht bemerktest, dass die Musik gar nicht mehr spielte, bildeten die Anwesenden einen Kreis und klatschten im Takt. Und mein Chef, verheiratet, drei Kinder, sagte zu mir: „Schauen Sie sich das an! Da bekommt man doch gleich Lust auf was Neues.“

Ach, Deiner Mutter hattest Du auf eindringliche Nachfrage erzählt, ich hätte versucht, Dich zu küssen. Dabei hatten wir uns längst geküsst. Und wie!

Deine Mutter stellte mich zur Rede: ob denn das jetzt schon sein müsse? Brav und etwas eingeschüchtert hatte ich verneint, wurde aber rot bei dieser Lüge.

Ich musste an den Tag denken, den wir bei meinen Eltern, als sie im Urlaub waren, im wesentlichen im Bett verbrachten, so wie Klärchen und Wolfgang in Kopenhagen. Du hattest lächelnd aus dem Fenster in den blauen Himmel geschaut und festgestellt: „Ihr habt aber eine hübsche Stadt hier.“

Und haben wir nicht herrlich verspielt mit Deiner kleinen Schwester herum getollt? Sie hing an mir wie an einem großen Bruder. Oder – ich war ganz erschrocken bei dem Gedanken – wie an einem Vater?

Einmal hatte sie Schluckauf, schon seit Stunden. Tiefes Einatmen und Luftanhalten hatte nicht geholfen. Da nahmst Du die Sache in die Hand:

„Leg Dich mal hin“, sagtest Du. „Die Augen schließen. Tief einatmen. Die Luft anhalten. Und an den Schluckauf denken. Wie sieht er aus? Welchen Mund hat er? Wie groß ist seine Nase? Siehst Du ihn? Ganz dunkelgrün ist er.“

Deine Schwester nickte.

„Nun fliegt er in den Himmel, an den Kuschelwolken vorbei, wird immer kleiner. Weg ist er.“

Und tatsächlich, der Schluckauf war verschwunden.

Deine Schwester fragte ungläubig: „Woher hast Du gewusst, wie er aussieht?“

Du hattest Deine langen Wimpern bedeutsam auf und zu geklappt und geantwortet: „Ich wusste es nicht, ich habe es nur geahnt.“

Warum war unsere Liebe eigentlich verschwunden?

Manchmal dachte ich, sie ist gar nicht zu Ende gegangen.

Warum geht eine Liebe überhaupt vorbei? Und warum beginnt sie? Wieso verliert am Beginn alles bisher Gewesene seine Bedeutung?

Als Du mir in einer dunklen Nacht ins Ohr flüstertest, Du wünschtest Dir ein Kind von mir, hattest Du mich damit erschreckt. Du dachtest ans Heiraten. Und ich wollte nicht, jedenfalls noch nicht. Bindungsangst nennt man das wohl.

Ich verhielt mich zögerlich bis ablehnend, wollte plötzlich nach Hause.

Du hast mich zum Bahnhof begleitet und geweint. Der Zug fuhr erst in einer Stunde. Die ganze Zeit hast Du geweint.

Dann sah ich Dich nie wieder.

Aber immer, wenn ich durch Schönhagen fuhr, warst Du mir wieder nah.

Dein Lachen erinnerte mich an unsere glücklichen Zeiten. Dein Weinen weckte Schuldgefühle in mir.

Ich bin Dir unendlich dankbar.

Du hast mir die Augen geöffnet für Donizettis „Liebestrank“, für die Musik von Mendelssohn-Bartholdy im „Sommernachtstraum“ und für den großen Geiger und Dirigenten Yehudi Menuhin. Für Kurt Masur – noch in Berlin – mit „Le Sacre du Printemps“ von  Strawinsky und Manfred Krug in „Porgy and Bess“, für die Felsenstein-Inszenierungen an der Komischen Oper insgesamt. Für Wolf Kaiser als Mackie Messer und Helene Weigel als Mutter Courage im Berliner Ensemble. Für die ganze Kulturszene überhaupt. Und für viele andere Dinge des Lebens und Liebens, deren ich mir erst nach Dir bewusst wurde.

Heute fuhr ich wieder durch Schönhagen.

Zu Füßen der japanischen Kirschbäume war ein Meer von Blütenblättern zu rosafarbenen Schneehaufen aufgetürmt. Die Äste wirkten noch ein wenig kahl, denn erst jetzt, nach der Blüte, begannen die ersten Blätter zu sprossen.

Wie gewohnt, sah ich auf den Bahnsteig, um nach Dir zu schauen.

Ein heißer Schauer durchfuhr mich. Da standest Du. Schlank wie eh und je. Die dunklen Haare immer noch sportlich kurz. Deine Augen wie Kohlen. Dein Lachen  dunkler als früher.

Ich stürzte aus dem Zug, als zum Einsteigen aufgerufen wurde, und eilte auf Dich zu.

Fast, aber eben nur fast, hätte ich Dich umarmt.

Ich sah Deinen Mund mit den senkrechten Falten in der Oberlippe. Es war der Mund meiner Mutter. Hab ich Dich deshalb geliebt? Gibt es tatsächlich so eine Prägung?

„Hallo, erkennst Du mich nicht?“

Du gucktest verständnislos.

„Ich bin es. Georg Falkenstein!“

Erkanntest Du mich wirklich nicht? Na ja, 50 Jahre sind eine lange Zeit. Ich war fülliger geworden, eben älter, hatte keine Haare mehr auf dem Kopf und trug eine Brille.

Du sagtest: „Falkenstein? Georg Falkenstein? Irgendwo muss ich den Namen schon einmal gehört haben.“ Dabei schütteltest Du leicht den Kopf.

Und Du gingst davon, erst langsam, dann immer schneller.

 

Published inProsa

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