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Kostbare Zeit (Waltrud Wamser-Krasznai)

Im Grunde sind wir reich an Zeit; wir haben mehrere Arten davon.

Da ist Chronos, die Zeit im absoluten Sinne, als Weltprinzip, lateinisch tempus. Das um 130 v. Chr. datierte römische Marmorrelief mit beigeschriebenen Namen zeigt Chronos als jugendlichen geflügelten Genius, in den Händen Buchrollen (Abb. 1). Neben ihm steht Oikoumene mit einer hohen Mauerkrone, die Personifikation der bewohnten Erde. Sie bekränzt den vor ihnen beiden thronenden Dichter Homer. Es ist zu vermuten, dass die beiden Schriftrollen auf die berühmtesten Epen Homers, Ilias und Odyssee, hinweisen[1]. „Solange Menschen auf Erden leben, sagt die Szene aus, ehren sie die Werke Homers“[2].

   Abb. 1: Apotheose Homers, Relief des Archelaos, Ausschnitt. Um 130 v. Chr.  
                                      Nach Pinkwart 1965, 57 Taf. 29 

Spätestens seit dem Mittelalter wird der Gott greisenhaft dargestellt[3] und mit den Attributen Sanduhr und Sense (oder Sichel) versehen. Schon im Altertum setzte man ihn gleich mit dem Titanen Kronos, der seine Kinder, die Jahre, verschlingt. Im Hymnos „An Schwager Kronos“ meint Goethe zwar den Gott der Zeit, doch beginnt er den Namen konsequent mit dem Anfangsbuchstaben K (Kappa):

Spute“ dich, Kronos, fort den rasselnden Trab…   

Zurück zum lateinischen Aequivalent Tempus. In ihrem großen Zeit-Monolog im „Rosenkavalier“ setzt sich die Marschallin mit der endlichen Zeit auseinander[4]:

Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding.

In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie.
In meinen Schläfen, da fließt sie.

Lautlos wie eine Sanduhr.

Manchmal steh ich auf  mitten in der Nacht
Und lass die Uhren alle, alle steh’n.
Dann, versöhnlich:
Allein man muss sich auch vor ihr nicht fürchten.
Auch sie ist ein Geschöpf des Vaters, der uns alle erschaffen hat.

Harald Weinrich geht in seiner ebenso instruktiven wie fesselnden Abhandlung „Knappe Zeit“ der philologisch-philosophischen Verbindung zwischen Zeit: tempus und  Schläfen: tempora ausführlich nach[5]. Jeder Mediziner kennt das Schläfenbein, Os temporale und die Schläfenarterie, Arteria temporalis, wo man den Puls mindestens ebenso gut wie am Handgelenk ertasten kann. In heutigen lateinischen Wörterbüchern findet man für das Wort tempus außer „Zeit“ auch „Schläfe, Gesicht, Haupt“, die drei letzteren meist vom Plural „tempora“ abgeleitet.     

Nahezu synonym mit Chronos[6] wird Aion gebraucht. Er vertritt die mit dem Menschen zusammen geborene Lebenszeit, symphytos aion[7]. Euripides nennt ihn des Chronos‘ Sohn[8]. Beide ähneln sich auch in ikonographischer Hinsicht. Wäre dem Relief eines sinnenden älteren Mannes nicht der Name beigeschrieben[9], könnte man ihn auch für Chronos halten. Ảιών verkörpert besonders lange Zeitspannen[10] und ist Herr über „Leben“ und „Lebenszeit“. In seinen letzten Augenblicken beschwört Goethes Faust selbstbewusst den heute wenig gebräuchlichen, von Aion abgeleiteten Ausdruck „Äonen“:

…Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Aeonen untergehen…[11]

Seit Platon identifiziert man Aion mit dem Wort Ewigkeit, seit Cicero mit dem lateinischen Äquivalent aeternitas. Als dem „Erzeuger“ der Zeiten fügt er dem „Χρόνος“ nicht nur … „ein in Zahlen fortschreitendes bewegliches Abbild der Ewigkeit, Ảιών, hinzu sondern auch die  zyklische Auffassung von der Zeit, ἐνιαυτός[12]. Durch die Gliederung in Tage und Nächte, Monate und Jahre, in der engen Verbindung zum Zodiakos und zum Kreis der Jahreszeiten lassen sich die Zeit-Personifikationen, Χρόνοι, kaum von einander trennen[13].

Ein Mosaik in Paphos gibt den durch ein goldenes Diadem und den Nimbus hervorgehobenen Aion als Richter in einem Schönheitswettbewerb wieder. Er und die Konkurrentinnen Kassiopeia und die Nereiden Thetis, Doris und Galathea sind namentlich gekennzeichnet[14].    

Eniautós klingt im lateinischen annus wieder und steht, wie wir bereits wissen, für die „kreisenden Jahre“, eine zyklische Zeit-Auffassung[15], die den Menschen des Altertums bis in die Spätantike hinein geläufig war. Der große Zyklus, mégas eniautós, umfasst die Periode zwischen zwei Festzyklen. Sie beträgt acht Jahre.  Vier Jahre, die Hälfte davon, entsprechen dem Abstand zwischen zwei olympischen Spielen, der Olympiade. Das einzelne Jahr gliedert sich in die wiederkehrenden Jahreszeiten, die Horen[16]. Selbst der Tag „kreist“ zwischen dem Aufgang der Sonne und dem des Mondes.

Zur Zeit Ptolemaios‘ II Philadelphos war die riesige Gestalt des Eniautós in Alexandria Teil der Prozession zu Ehren des Gottes Dionysos. Er wurde von einem Tragödien-Schauspieler auf hohen Kothurnen dargestellt. Auf einer apulischen Loutrophoros[17] dagegen erscheint er als beinahe nackter Jüngling, der ein Füllhorn mit Getreideähren im Arm trägt. Neben ihm thront die

Ortspersonifikation von Eleusis mit einer Kreuzfackel, einem Attribut der Korngöttin Demeter/Ceres (Abb. 2).

          Abb. 2: Eniautòs und Eleusis, 330/320 v. Chr. Malibu, Getty-Museum.
                                       Nach Simon 1988, 68. 82 Taf. 7

Beide Namen sind beigeschrieben.

Von den drei bisher besprochenen Zeit-Personifikationen setzt sich Kairos, der junge Gott der qualitativen Zeit,deutlich ab. In einer Spanne von äußerster Kürze, dem flüchtigen Augenblick, drängt sich die ganze Fülle einer Lebens- und Welterfahrung zusammen[18], lateinisch occasio, auch fortuna. Als geflügelter Jüngling balanciert er eine Wage auf Messers Schneide. Wem es nicht gelingt, ihn vorn am Schopf zu packen, hat das Nachsehen[19]. Der kurz geschorene glatte Hinterkopf gleitet unter den Händen weg (Abb. 3). Jede weitere Aktion kommt dann παρὰ καιρὸν, zur Unzeit, wie es bei Platon heißt[20].

Wer jedoch schnell reagiert und die günstigen Umstände zu nutzen versteht – carpe diem[21] –  hat gewonnen.

                                     Abb. 3:  Relief Turin, 2. Jh. n. Chr.
                                Nach LIMC V, 1990, 922 Nr. 4 Taf. 597

Marie von Ebner-Eschenbach fasste den Sachverhalt in einen treffenden Aphorismus:

Wenn die Zeit kommt, in der man könnte,
ist die vorüber, in der man kann.

Daher rät Goethes Mephisto auch dem Schüler:

Gebraucht der Zeit, sie geht so schnell von hinnen,
doch Ordnung lehrt euch Zeit gewinnen[22].

So lange aber das Werk über die Zeit, le Temps[23] noch nicht in einem Buch in Sicherheit gebracht ist, mis en sȗreté, besteht die Gefahr, dass le temps, die Zeit, nicht ausreicht. Es ist also höchste Zeit, grand temps. Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. Wir schreiben schließlich für uns selbst. Schiller hat das in  einem 1797 verfassten Brief an Goethe formuliert: …da es einmal ein festgesetzter Punkt ist, dass man nur für sich selber philosophiert und schreibt, so ist auch nichts dagegen zu sagen; im Gegenteil, es bestärkt einen auf dem eingeschlagenen guten Weg …Seien wir geizig mit dem kostbaren Gut, denn: 

die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont[24] . Trotzdem ist    nicht gesagt, dass in dem undurchsichtigen Sack Zukunft nicht auch ein Entzücken steckt[25]

Abgekürzt verwendete Literatur und Bildnachweis:

Bemmann 1994: K. Bemmann, Füllhörner in klassischer und hellenistischer Zeit (Frankfurt am Main 1994)

Brommer 1967: F. Brommer, Aion, MarbWPr 1967, 1-5 Taf. 1-3

Daszewski – Michaelidis 1989: W. A. Daszewski – D. Michaelidis, Führer der Paphos Mosaiken (Nicosia 1989)

Fränkel 1968: H. Fränkel, Die Zeitauffassung in der frühgriechischen Literatur, in: F. Tietze (Hrsg.), Wege und Formen frühgriechischen Denkens (München 1968) 1-22

LIMC I, 1981: LIMC I, 1981, 399-411 Taf. 312-319 s. v. Aion (M. Le Glay)

LIMC V 1990: LIMC V, 1990, 922 Nr. 4 Taf. 597 s. v. Kairos (P. Moreno)     Abb. 3 

Pinkwart 1965: D. Pinkwart, Das Relief des Archelaos von Priene, AntPl  IV, 55-65   
Abb. 1

Simon 1983: E. Simon, Zeitbilder der Antike, in: Feier zur Verleihung des Ernst Hellmut Vits-Preises (Münster 1983) 17-41. 

Simon 1988: E. Simon, Eirene und Pax (Wiesbaden1988)      Abb. 2

Simon 2012: E. Simon, Die Apotheose Homers, in: dies., Ausgewählte Schriften IV (Wiesbaden 2012) 131-139 

Wamser-Krasznai 2016: W. Wamser-Krasznai, Kairós – den rechten Augenblick ergreifen…in: dies. Beschwingte Füße (Budapest 2016) 117-121

Weinrich 2008: H. Weinrich, Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens (München 2008)


[1] Pinkwart 1965, 57 Taf. 29; LIMC  III (1986) 277 Abb. 1 Taf. 222, s. v. a. Chronos  (M. Bendala Galán); Simon 1983, 25.

[2] Simon 2012, 134 Abb. 1.

[3] RE 1899 ND, 2481 f.; Simon 1983, 17 f.

[4] Text: Hugo von Hofmannsthal (1911), Komposition: Richard Strauss.  

[5] Weinrich 2004, 229-238.

[6] Simon 1983, 18.

[7] Aischyl. Ag. 107.

[8] Eur. Heraklid. 900; RE I, 1 (Stuttgart 1893) 1042.

[9] Brommer 1967, 3 Taf. 3; LIMC I, 1981, 401 Nr. 7 Taf. 312 (M. Le Glay).

[10] Hes. theog. 609.

[11] Goethe, Faust II, 60, Großer Vorhof des Palasts.

[12] Plat. Tim. 37 d-38 e.

[13] s. LIMC I, 1981, 400 Nr. 2  Taf. 311; Simon 1983, 28-31 Abb. 15.

[14] Daszewski – Michaelidis 1989, 67-70 Abb. 48.

[15] Hom. od. 16.

[16] Simon 1988, 78 f. (28 f.); LIMC VIII,1, 1997, 573.

[17] Das Gefäß, in dem man das Wasser für das Brautbad transportierte, Simon 1988, 68 (18) Taf. 7.

[18] Weinrich 2008, 54.

[19] Wamser-Krasznai 2016, 117.

[20] Politeia 546 b.

[21] Hor. carm. 1, 11. Auf dem Mosaik in Paphos, Haus des Aion, Daszewski – Michaelidis 1989, 69 Abb. 48.sind zwei Formen der Zeit, Aion und Kairos, dargestellt, beide durch Beischrift gekennzeichnet.

[22] Goethe, Faust I, Studierzimmer.

[23] M. Proust, A la Recherche du temps  perdu, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit; dazu ausführlich Weinrich 2008, 147-150.

[24] I. Bachmann, Die gestundete Zeit, 1953.

[25] M. L. Kaschnitz, Nidda, Fragment 1928/29. 

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