Zum Inhalt springen

Der Anatom Ludwig Stieda – ein baltischer Universalgelehrter[1]1837 (Dorpat) – 1918 (Gießen) (von Waltrud Wamser-Krasznai)


Ludwig Stieda stammte aus einer deutschen Familie mit Wurzeln in Thüringen. Von den 13 Kindern des Urgroßvaters, einem Pfarrer bei Arnstadt, wanderten drei Söhne als Rechtsanwälte nach Riga aus. Zarin Katharina, eine Prinzessin von Anhalt-Zerbst, hatte das Interesse auf die Ostseeprovinzen des Russischen Reiches gelenkt. 1837 wurde Ludwig Stieda als ältestes von 10 Kindern in Riga geboren. Nach der Reifeprüfung am dortigen Gouvernements-Gymnasium studierte er in Dorpat, dem heutigen Tartu, Medizin. Bereits ein Jahr nach dem Physikum wurde er für eine anatomische Arbeit, bei der ihm sein Geschick für die Anfertigung frischer Präparate zugute kam, ausgezeichnet. Nach der Promotion[1] vertiefte er seine Kenntnisse an den Universitäten von Gießen, Erlangen und Wien, bevor er sich im Alter von 25 Jahren in Dorpat habilitierte[2]. Zwei Jahre später trug man ihm die Dozentur für Anatomie in Charkow (Charkiv) an, auf die er wie es heißt zu Gunsten eines Freundes verzichtete. 1872 erhielt er einen Ruf als ordentlicher Professor an die Universität Kasan, den er ablehnte. 1875 übernahm er das Ordinariat in Dorpat  und wurde zum Wirklichen Russischen Staatsrat mit dem Prädikat Exzellenz ernannt. 10 Jahre später folgte er der Berufung nach Königsberg (Kaliningrad), wo er als Ordinarius und Direktor des Anatomischen Instituts bis zu seiner Emeritierung 1912 wirkte.
    Stieda muss ein begnadeter und hingebungsvoller akademischer Lehrer gewesen sein. Im Bestreben, seinen Schülern die Anatomie möglichst anschaulich zu machen, gab er ihnen so oft wie möglich ein Präparat in die Hand, sprach klar und einfach und würzte seinen Vortrag gelegentlich mit einem kräftigen Scherz. Unter seiner Leitung entstanden mehr als 60 Dissertationen. Seine Stellung zum Frauenstudium war anfangs durchaus ablehnend…Als aber durch ministerielle Verfügung die Gleichberechtigung der Frauen zum Studium angeordnet war, …hat er seine Auffassung geändert…Als Ausdruck seiner Anerkennung war das von ihm gestiftete… Stipendium in gleicher Weise für männliche und weibliche Studierende bestimmt.[3]
    Wie aus seinem umfangreichen über 200 Einträge umfassenden Schriftenverzeichnis hervorgeht, weisen seine Forschungen eine große Bandbreite auf. Aus persönlichem Interesse der Autorin werden einige Arbeiten auf dem Gebiet der Orthopädie zuerst genannt: In einem 1866 erschienenen Aufsatz „Über Halsrippen“[4]  lieferte Stieda die detailgetreue illustrierte Beschreibung dieser oft beschworenen aber seltenen Varietät. Die obere Fläche des Rippenhalses zeigt eine Furche für den durch das Foramen intervertebrale hindurchtretenden siebten Cercicalnerven. In seiner Arbeit über den „Talus und das Os trigonum Bardeleben beim Menschen“ grenzte er den akzessorischen Knochenkörper gegen Sesambeine ab und bestätigte ihn als isolierten Teil des Talus. Im Wintersemester 1888/1889 kam er bei 74  präparierten Leichen auf eine Häufigkeit des Os trigonum von 6 Prozent[5]. Stiedas Sohn Alfred, Assistent und Privatdozent an der chirurgischen Klinik Königsberg, beschrieb den später so genannten „Stieda-Schatten“ am Kniegelenk. Seine Ergebnisse hatte er mit Hilfe der damals noch sehr jungen Röntgendiagnostik gewonnen[6].
    Von großer Bedeutung für die deutschsprachige Forschung waren seinerzeit auch die zusammenfassenden Berichte über die anatomische Literatur Russlands, die in acht Sammelbänden erschienen[7].          
    Neben rein medizinischen Themen beschäftigte sich Ludwig Stieda auch mit den Biographien bedeutender Naturforscher und Ärzte. Er gab wesentliche Teile aus dem Nachlass des Embryologen Karl Ernst von Baer (1792-1876) heraus, der in Königsberg und Petersburg gelehrt und seine letzten Jahre in Dorpat verbracht hatte. Später vermachte Stieda den Nachlass der Universität Gießen.
    Angeregt durch die Studien von Baers und anderer deutscher und russischer Gelehrter entstanden Stiedas Berichte zur Ethnographie Ungarns und der Slawen, zu Moorleichenfunden in Schleswig-Holstein und Zeugnissen der Runenschrift in Schweden und Estland[8].  
    Frühzeitig interessierte er sich auch für archäologische Themen. Seit 1864 lebte der in Gießen geborene Klassische Philologe und Archäologe Ludwig Schwabe als Ordinarius in Dorpat. In dessen Haus lernte Stieda seine spätere Frau, Mathilde Lagermann, die Schwester von Schwabes Gattin, kennen. Der Greifswalder Altertumswissenschaftler Alfred Körte lenkte Stiedas Aufmerksamkeit auf antike anatomische Weihgaben. Bei nächster Gelegenheit studierte Stieda etruskische Körperteilvotive in italienischen Museen und Grabungsdepots und erwarb in Rom und Latium eine umfangreiche Sammlung dieser Objekte. 1899 veröffentlichte er einen ersten Beitrag „Über alt-italische Weihgeschenke“ in den Römischen Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Zwei Jahre später folgte eine sehr viel ausführlichere, reich bebilderte Monographie mit dem Titel: „Anatomisches über alt-italische Weihgeschenke (Donaria)“. Aus demselben Jahr stammt auch seine Arbeit „Über die ältesten bildlichen Darstellungen der Leber“[9].
Stieda, der 1908 seine Gattin verloren hatte, übersiedelte nach der Emeritierung 1912 von Königsberg nach Gießen, wo die Verwandten seiner Frau und die seines Schwagers Ludwig Schwabe lebten. Auch Alfred Körte war seit 1904 als Professor für Klassische Philologie in Gießen tätig. 1913 schenkte Stieda seine mehr als 50 Stücke umfassende Sammlung italischer Votivterrakotten dem Archäologischen Institut der Gießener Universität[10]. Er ist an seinem 81. Geburtstag im November 1918 verstorben. Im Erbbegräbnis der Familie Ludwig Stieda auf dem Alten Friedhof in Gießen wurde er beigesetzt.  


[1] „Über das Rückenmark und einzelne Teile des Gehirns von Esox Lucius L.“, Dorpat 1861.

[2] „Über das Kapillarsystem der Milz“.

[3] Recke – Wamser-Krasznai 2008, 20 f. mit Anm.

[4] Archiv für patholog. Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin (Hrsg. R. Virchow) Berlin 1866, 425 ff.

[5] Anatomischer Anzeiger 4, 1889, 305-319. 336-351.

[6] L. Stieda, Über die Erfolge der Röntgenuntersuchung für die Anatomie, 19. Verh. Anat. Ges. Genf 1905, 238-240.

[7] Bericht über die anatomische, histologische und embryologische Literatur Russlands, in: Ergebnisse der Anatomie und Entwicklungsgeschichte 1893-1911.

[8] Sitzungsberichte d. Gelehrten Estnischen Ges. Dorpat 1873 und 1875-77.

[9] Anatomisch-Archäologische Studien I und II 1901/02.

[10] Umfangreiche Studien durch M. Recke, Gießen 1998-2015; M. Recke – W. Wamser-Krasznai, Kultische Anatomie. Etruskische Körperteilvotive aus der Antikensammlung der Justus-Liebig-Universität Gießen (Stiftung Ludwig Stieda (Ingolstadt 2008); W. Wamser-Krasznai, „Herzen?“ und „Innereien“, in: dies., Nachlese (Budapest 2023) 80-111 mit vielen Abbildungen.   

[1] M. Recke – W. Wamser-Krasznai, Kultische Anatomie  2008, 15-28.

Möchten Sie  jemandem von dieser Seite berichten ? Klicken Sie einfach auf das entsprechende Symbol in der Auswahl unten links !

Published inNeuzugängeProsa

Unterstützen Sie unsere Arbeit!

Bankverbindung:
Deutsche Apotheker- und Ärztebank
Filiale Frankfurt am Main

IBAN DE26 3006 0601 9378 63
BIC DAAEDDXXX

Innerhalb Deutschlands genügt die IBAN.

Der BDSÄ ist als gemeinnützig anerkannt und darf Spendenquittungen ausstellen.

✎ 2021 Bundesverband Deutscher Schriftstellerärzte (BDSÄ)
PHP Code Snippets Powered By : XYZScripts.com