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Die ‚Gelenkleiden‘ des Hermann Hesse (von Waltrud Wamser-Krasznai)

An Tagen wo ich meine Finger biegen kann,
Vergehn mit Verseschreiben mir die Stunden,
Und wenn ich einen guten Vers gefunden,
Geht mich die Welt, die Gicht, der Schmerz nichts an.

    Hatte Hesse denn Gicht? Oder Rheumatoide Arthritis?
Begeben wir uns ein wenig auf diagnostische Spurensuche im Werk des Schriftstellers.

Das Zitat geht weiter:
An andern Tagen geht das Schreiben nicht.
Dann lausch‘ ich dem, der tief in meinen Knochen
Sich dehnt und immer weiter kommt gekrochen.
Es ist der Tod, doch nennen wir ihn Gicht.

    Hermann Hesse äußert sich mehrfach zu diesem Thema. Beim Wiedersehen mit der alten Nina im Tessin (1927), als sie beim Kaffe zusammen sitzen, lässt er sie so richtig ausbrechen:
Die Gicht! Eine Hure ist sie, eine verfluchte Hure! Sporca puttana! Möge sie der Teufel holen! Möge sie verrecken!

    Retrospektive Diagnosen sind bekanntlich eine heikle Angelegenheit. Keiner von uns hat den Dichter klinisch untersucht, Röntgenaufnahmen anfertigen lassen oder seine Blutsenkung und die Harnsäurewerte überprüft. Beschränken wir uns also auf die körperlichen Symptome, die Hesse mehrfach vorzüglich schildert:
Vor ihm liegen auf der Decke
Seine Hände…
Steif und hölzern,…
Knecht zu sein,
sind sie müd und dorren ein
[1]

Oder:
Krumme Hände lasten
Still auf steifen Knien…
Geben sich dem Rasten
Und Verwelken hin
[2].

Das ist nicht die Beschreibung eines akut entzündlichen, sondern die eines „trockenen“, degenerativen Gelenkleidens. Allerdings: wenn selbst Fachleute Mühe haben, die Arthrose (im angelsächsischen Sprachgebrauch Osteoarthritis) differentialdiagnostisch von der Gicht, der Rheumatoiden Arthritis oder der Psoriasis-Arthritis abzugrenzen, ist es dann ein Wunder, wenn Hermann Hesse als Nicht-Mediziner angesichts einer aktivierten Finger-Polyarthose die Eigendiagnose einer Gicht stellt?
    Von seinem 46. Lebensjahr an hat Hesse in Baden bei Zürich mehrfach Kuren gebraucht. Launig schildert er die Spiele des Nervus ischiadicus.
Kaum war ich …mit einiger Beschwerde aus dem Zug gestiegen, …sah ich aus demselben Zug…drei oder vier Kollegen steigen, Ischiadiker, als solche deutlich gekennzeichnet durch das ängstliche Anziehen des Gesäßes, das unsichere Auftreten und das etwas hilflose und weinerliche Mienenspiel, das ihre vorsichtigen Bewegungen begleitete…Alsbald blieb ich stehen und betrachtete mir diese Gezeichneten. Und siehe, alle drei oder vier schnitten bösere Gesichter als ich, stützten sich stärker auf ihre Stöcke, zogen ihre Schinken zuckender empor, setzten ihre Sohlen ängstlicher …auf den Boden als ich, alle waren sie leidender, ärmer, kränker, beklagenswerter als ich, und dies tat mir äußerst wohl.
    Wir fragen uns natürlich, ob nicht der eine oder andere dieser sog. Ischias-Kranken in Wahrheit an einer Coxarthrose litt…
    Während einer Kur im Jahr 1923 erlebt Hesse eine überaus heftige Badereaktion:
Ich habe scheußliche Schmerzen, und nicht bloß beim Gehen, sondern auch beim Sitzen, sodass ich seit vorgestern fast immer liege…Allerdings hatte man mir gleich beim Beginn der Kur gesagt, dass solche Reaktionen eintreten könnten, aber dass die Zunahme der Schmerzen so heftig und niederdrückend sein könnte, hatte ich nicht geahnt. Ich bin in acht Tagen ein alter Mann geworden, dem der Liftboy beim Ein- und Aussteigen behilflich sein muss. Mit der körperlichen Trägheit geht die geistige Hand in Hand. Es wird nicht mehr lange dauern, so werde ich mich mit Frau Müller nachmittagelang über ihre Rheumatismen unterhalten und über alle Arten Tee, die es dagegen gibt[3].
    Doch manchmal gelingt es dem Schriftsteller, einen Silberstreifen an den Horizont zu malen:
Dass es auch Ischiadiker geben könne, welche ganz ohne Stock und ganz ohne krampfhafte Gebärden geben konnten, dass es viele Gichtiker gebe, denen auf der Straße kein Mensch, auch kein Psychologe, ihr Leiden anzusehen vermöge…diese Erkenntnis erreichte mich erst nach mehreren Tagen…Aber jenseits dieser…beginnenden Kurwochen lag der Tag, an dem ich verjüngt und geheilt, mit elastisch spielenden Knien und Hüften, von diesem Baden wieder Abschied nehmen und die … Straße zum Bahnhof  hinantanzen würde“.

Literatur:
Hermann Hesse, Kurgast (Frankfurt am Main 1999)


[1] „Der alte Mann und seine Hände“.

[2] „Müder Abend“.

[3] Hesse Kurgast 125 f.

Published inNeuzugängeProsa

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